© Nicole AlbiezSchalko: Es ist bestimmt der philosophischsteRoman, den ich bis jetzt geschriebenhabe. Und er sitzt auch sehr inder Gegenwart. Er nimmt auf das GrundgefühlBezug, dass uns der Boden unterden Füßen weggezogen wurde. Die Fragelautet ja: Was war das überhaupt fürein Boden, der uns da abhandenkam?Oberflächlich betrachtet handelt es sichum eine Kapitalismuskrise. Aber wennman tiefer schaut, dann merkt man, esgeht um wesentlich Existenzielleres. Esgeht darum, dass wesentliche Teile unsererWelt verschwinden. Und dass sieauch nicht mehr nachbesetzt werden.Walter Benjamin hat geschrieben: „DieGeburtskammer des Romans ist dasIndividuum in seiner Einsamkeit, dassich über seine wichtigsten Anliegennicht mehr exemplarisch aussprechenkann, selbst unberaten ist und keinemRat geben kann.“ Ihr Protagonist Felixist spiegelbildlich dazu ein großerEinsamer, der sich zwischen Scham,Gleichgültigkeit und Sprachlosigkeitdurch sein Umfeld bewegt, mit demgleichzeitigen Wunsch nach Austauschund Berührung. Wie sehen Sie IhrenProtagonisten, was hat Sie an ihm undseiner Geschichte interessiert?AdvertorialTeresa Petrovitz im Gespräch mitDavid Schalko»Die Frage lautet ja: Was wardas überhaupt für ein Boden,der uns da abhandenkam?«In Ihrem neuen Buch Was der Tagbringt verliert Ihr Protagonist Felixseinen Job und gerät in eine finanzielleKrise, was einerseits zu einer Auseinandersetzungmit seiner Identität undandererseits zu skurrilen Ergebnissenführt: Er muss seine Wohnung tageweiseauf einer Plattform vermieten, wasnur mäßig erfolgreich verläuft. Dennochist Ihr neuer Roman ruhiger undweniger digressiv als Ihre Vorgänger.Wie würden Sie ihn in Ihrem bisherigenWerk einordnen?Schalko: Der Protagonist bewegt sichzunehmend als Geist durch eine Welt, inder alle aneinander vorbeischauen. Dernirgends mehr andocken kann. Weil ersich de facto auch für nichts mehr wirklichinteressiert. Die Scham hält ihn amLeben. Gleichzeitig trägt er das Stigmades weißen Mannes über 40, der für irrelevanterklärt wird. Es ist aber auch derVersuch, einen existenzialistischen Romanfür das digitale Zeitalter zu schreiben.Was bedeuten uns Dinge? Wiesehen unsere Tage aus, wenn sie nichtmehr von Arbeit strukturiert sind? Waspassiert mit uns, wenn unsere Identitätennicht mehr individuell, sondern alsberechenbar wahrgenommen werden.Wie findet man Glück in einer entzaubertenWelt?Ihr Roman spielt kurz nach den Hochzeitender Pandemie, der russischeÜberfall auf die Ukraine deutet sichan. Zu Felix schreiben Sie: „Das Letzte,was er brauchte, war ein Krieg. Dafür32sortimenterbrief 4/23
ein bestechender kommentar auf unsere krisenhafte gegenwarthatte er jetzt wirklich keine Nerven. EinKrieg verlangte Aufmerksamkeit. Manmüsste sich damit beschäftigen. So wieman sich plötzlich mit Viren hatte beschäftigenmüssen.“ Welche Symptomesehen Sie hier in Felix eingeschrieben?Die „große Erschöpfung“, die manchevon uns erfasst hat?Schalko: Diese Erschöpfung kommtvielleicht daher, dass wir von einer Krisein die nächste geraten. Dass man sichnicht mehr zurücklehnen kann, weil dieSicherheiten sich auflösen. In den 90ernhat man kurz geglaubt, ab jetzt wird allesnur noch besser. In diesem absolutenFortschrittsglauben konnte sich keinervorstellen, dass wir politisch quasi insMittelalter zurückgeschossen werden.Dass Donald Trump amerikanischerPräsident werden kann, dass Putin einengroßen Krieg in Europa anfacht, dass dieLüge der Wahrheit gleichgestellt wird,dass niemand etwas gegen den Klimawandeltut, dass noch immer Extremkapitalismusherrscht, obwohl er nursehr wenigen nützt – all dies nimmt denGlauben an die Menschheit. Es ist eineeinzige Geschichte des Versagens.Vorangestellt ist Ihrem Roman ein Zitatvon Bobby Fischer, auch im Buchkommt es immer wieder zu Hinweisenauf Schach, etwa durch das legendäreBild „Duchamp Playing Chess with aNude“ und Felix’ Erinnerungen an dasSchachspielen mit seinen Eltern. SindSie selbst Schachspieler? Welche Facettendaran interessieren Sie am meisten?Schalko: Ich spiele gern, aber nicht gut.Vermutlich, weil mich die Eröffnungmehr interessiert als das Ende. AberSchach ist dramaturgisch interessant.Es ist wie eine Bühne. Figuren betreteneinen leeren Raum, mit dem Ziel, einenKönig zu Fall zu bringen. Dazwischenangespannte Stille. Langsamkeit. Kontemplation.Es geht darum, wie man sichbewegt und zueinander verhält. Es hatauch Ähnlichkeiten mit einer Familienaufstellung.Wie steht man zueinander.Jeder Zug ist eine Entscheidung, die Dingein Bewegung bringt. Ursache – Wirkungin purster Form.Vielen sind Sie durch Serien wie „Sendungohne Namen“, „Braunschlag“oder „Altes Geld“ bekannt, Sie verstehensich selbst aber in erster Linie alsSchriftsteller, das Literarische ist für Siedie Basis. Hatten Sie durch Ihre Familieund Sozialisation früh Kontakt mit Literatur,spielte bei Ihnen zu Hause dasErzählen eine wichtige Rolle? Wie sindSie zum Schreiben gekommen?David SchalkoWas der Tag bringt304 Seiten, Hardcover, mit SchutzumschlagISBN 978-3-462-00408-3, € 24,70Kiepenheuer & WitschSchalko: In meinem Elternhaus spielteLiteratur eine geringe Rolle. Bei uns gabes kaum Bücher. Aber meine Mutter hatmir sehr früh die öffentliche Bibliothekgezeigt und dort habe ich sehr viel Zeitverbracht. Auch mein Großvater hatmir die Schönheit von Büchern nähergebracht.Ich bin durch das Lesen zumSchreiben gekommen. Und durch einelangweilige Kindheit im positiven Sinn.Da wird die Fantasie beinahe wichtigerals die Realität.Wen und was lesen Sie heute am liebsten,wer beeindruckt Sie besondersdurch Themen und Stil?Schalko: Ich tue mir zunehmendschwerer, mich für die klassische Romanformzu begeistern. Die glatte, dramaturgischdurchdachte Erzählung, diefunktioniert, langweilt mich zu Tode.Ich suche das Brüchige, das Rissige. ImAugenblick lese ich mit großer BegeisterungJahrestage von Uwe Johnson. Inden letzten Monaten haben mich vorallem Tove Ditlevsen, Mary Ruefle, OttessaMoshfegh und wieder einmal CormacMcCarthy begeistert.Vor Kurzem haben die Dreharbeiten zuIhrer neuen Miniserie „Kafka“ begonnen,die das Leben dieses Giganten derLiteratur der Moderne behandelt. Sieführen Regie, Daniel Kehlmann schriebdie Drehbücher. Sie wagen sich oft mitgroßer Experimentierfreudigkeit anStoffe, die anderen vielleicht zu großoder zu heikel wären. Sind Sie insofernein mutiger Mensch?Schalko: Ich betrachte meinen Berufähnlich wie ein Kapitän, der sein Schiffin unbekannte Gewässer lenkt. Ich machedas nicht, um Verkehrsteilnehmerzu sein. Sondern um für mich persönlichTüren zu öffnen. Es ist keine Frage desMutes. Sondern: Warum macht man daseigentlich? Ich fände es furchtbar, michzu wiederholen. Dann weiß ich, dassich tote Kunst produziere. Die nur dazugemacht ist, um erfolgreich zu sein. Dieman für andere produziert. Aber ich machedas für mich selbst. Es ist die Welt,die ich bewohne.Herzlichen Dank für das Gespräch!David Schalko,geboren 1973 in Wien, lebt als Autor und Regisseurin Wien. Bekannt wurde er mit revolutionärenFernsehformaten wie der „Sendung ohne Namen“.Seine Filme und Serien wurden mit zahlreicheninternationalen Preisen ausgezeichnet. Zuletzterschienen seine Romane Schwere Knochen undBad Regina sowie die Erzählungen Wir lassen unsgehen.sortimenterbrief 4/2333
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