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sortimenterbrief april 2023

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe April 2023.

© Barbara

© Barbara WirlTschechoslowakei nach Österreich gekommen.Welche Themen, die Sie vielleichtauch selbst berühren, wollten Sienun literarisch verarbeiten?Gregor: Im neuen Buch hat mich interessiert,wie die Herkunft der beidenihre späteren Lebensentscheidungenbeeinflusst, von der Berufswahl bis hinzu den Beziehungen, die sie eingehen.Im Grunde sind Menschen aus dem Ostenin Österreich eher unauffällig unterwegs.Dass wir nicht hier geboren sind,sieht man uns nicht an, oft sind unsereNamen nicht allzu auffällig, wir passenuns gut an. Dabei wird gerne übersehen,dass wir doch ganz anders aufgewachsensind und dass unser Leben noch beeinflusstist von den Erfahrungen einerganz anderen Welt und Zeit.AdvertorialTeresa Petrovitz im Gespräch mitSusanne GregorVon der Sehnsuchtnach einem AnkommenFrau Gregor, 2019 ist Ihr Buch Das letzterote Jahr erschienen. Es erzählt vomslowakischen Geschwisterpaar Mišaund Alan und ihrem Leben im letztenJahr des kommunistischen Regimes.Am Ende steht die Migration nach Österreich.Miša und Alan sind auch dieProtagonist:innen Ihres neuen Buches.Gregor: Alans und Mišas Geschichtewar für mich noch nicht auserzählt, diebeiden haben mich weiterhin beschäftigt.Bei Das letzte rote Jahr stand fürmich die Frage im Zentrum, wie Menschendas Jahr des Zusammenbruchsdes kommunistischen Regimes erlebthaben. Und ich wollte darstellen, welcheMotive schlussendlich dazu führten,dass viele die eigene Heimat in RichtungWesten verlassen haben. Insofern istDas letzte rote Jahr eine Vor-Migrationsgeschichte,die anhand des Geschwisterpaaresdie Ursachen und die individuellenVorgeschichten von Migrationbeleuchtet. Mein neues Buch knüpft anden Vorgänger an, dies aber nur lose. Esspielt zehn Jahre später, Miša und Alansind erwachsen geworden. Wer Das letzterote Jahr noch nicht kennt, kann Wirwerden fliegen ohne Verständnisschwierigkeitenlesen, es ist ein eigenständigerRoman geworden.Sie selbst teilen den ErfahrungshorizontIhrer beiden Figuren: Sie sind imJahr 1990 mit Ihrer Familie aus derIhr Buch ist in dieser Hinsicht von großerAktualität: Durch den russischenÜberfall auf die Ukraine wird all daswieder sichtbarer, was über die Jahrevon vielen ignoriert wurde: die oftunüberbrückbaren ideologischen Unterschiedezwischen Ost und West undzugleich das geschichtliche Gewordenseinder Menschen in den östlichenLändern, die die sowjetische Politik alsTrauma erlebt haben.Gregor: All die Gräben, die heute plötzlichwieder sichtbar geworden sind,haben viele überrascht, aber sie warenimmer da. Mit dem Fall des EisernenVorhangs schien es, als sei ein geschichtlichesKapitel abgeschlossen. Der Ostenwar nun frei, wenn weiterhin Armut undaus der westlichen Perspektive Rückständigkeitherrschten, lag das ganz alleinin der Verantwortung der Ex-Sowjetstaaten.Vergessen wurde dabei, dass alldiese Länder und ihre Bevölkerungennach 1989 politisch verwirrt und zerrissenzurückgeblieben sind, dass die jahrzehntelangeIsolation und das Aufwachsenim Kommunismus Auswirkungenhatten, die noch heute existieren.36Die Konflikte, die durch das Aufeinanderprallenverschiedener Lebenssortimenterbrief4/23

ein warmer, hoffnungsvoller romanwelten entstehen, wirken auch in denProtagonist:innen Ihres neuen Buchesfort. Alan, der kurz vor dem Zusammenbruchder Sowjetunion nach Österreichgeflohen ist, macht Karriereals Arzt, schafft es aber nun nicht mehr,diesen Lebensweg weiterzugehen.Gregor: Weil er sich in diesem Weg nichtwiederfinden kann. In Alan spiegelt sichetwas wider, das ich bei Migrant:innenaus dem Osten und auch manchmal inmir selbst spüre, nämlich eine gewisseForm von Überambition, den Hang zumOverachieving. Es sei dahingestellt, obdies der Sehnsucht nach Gleichstellunggeschuldet ist, die wir glauben, nurdann erreichen zu können, wenn wirdie Mehrheitsgesellschaft übertreffen,oder ob dahinter die Sozialisation imKommunismus steht, in der das ThemaArbeit eine besondere Rolle einnahm.Alan kommt jedenfalls aus einer Gesellschaft,in der jeder Lebensweg unheimlichlinear ablief. Spielerisches, dasExperimentieren mit Erfahrungen, sichdie Zeit zu nehmen, um seinen Weg zufinden, alles, was im Westen heute normalist, war in diesem Rahmen nichtvorstellbar. Neben der Arbeit galt es zuheiraten, um überhaupt ausziehen zukönnen und eine eigene Wohnung zuerhalten. Danach kam die Pension. Alanist hin- und hergerissen zwischen dieserverinnerlichten Linearität, dem Bedürfnisnach Anerkennung und dem, was ersich eigentlich wünscht.Seine Schwester Miša antwortet andersauf diese Konfliktsituation.Gregor: In ihr kommen andere Erfahrungenzum Tragen. Sie ist jüngerals Alan, sie empfand auch nicht diesegroße Sehnsucht nach dem Westen wieihr Bruder. Ihre Gefühle des Fremdseins,die sie durch die Migration nach Österreicherlebt hat, haben dazu geführt,dass sie sich in sich selbst zurückzieht.Von daher kommt auch ihre Neigung,mit den Normen zu brechen. Ihr Lebenist chaotischer, weit weniger angepasst.Wenn es um Migrationsgeschichtengeht, wird auch gerne von migrantischenSchriftsteller:innen gesprochen.Begreifen Sie sich auch selbst so oderempfinden Sie derartige Zuschreibungenals einschränkend?Gregor: Ich habe gerade durch meineMigrationserfahrung gelernt, starreIdentifikationen abzulegen. Ich empfindemich weder als Slowakin noch alsÖsterreicherin, sondern vielmehr alsbeides, wenn es erlaubt ist, Heimat imPlural zu denken. Diese Haltung beeinflusstauch meine Identität als Schriftstellerin.Ich habe zudem die Erfahrunggemacht, dass sich all diese Zuschreibungenim Laufe der Zeit immer wiederändern, inaktuell werden. Das ist auchim Bereich Migrationsliteratur zu beobachten.Das Thema Migration habeich zudem erst in meine letzten beidenBücher einfließen lassen. Ich begreifemich somit auch nicht als Sprecherin fürMigrationsthemen, sondern als Schriftstellerin,auf die verschiedene Themenzukommen.Dieser Zugang ist in Wir werden fliegeneingeschrieben: Das Beziehungsgeflechtrund um die Protagonist:innenist durch unterschiedliche Lebensentwürfegeprägt.Gregor: All die Menschen, die Miša undAlan begleiten, haben verschiedene Erfahrungenund Prägungen. Was sie aberalle eint, ist, dass sie sozusagen auf derDurchreise sind, sie haben keine festenBezugspunkte mehr. Das wollte ich inmeinem Buch insbesondere reflektieren:Wir sind mittlerweile alle losgelöstvon Orten und vorgefertigten Lebenswegen.Es ist normal geworden, beruflichvon hier nach dort zu ziehen, keinen fixenLebensmittelpunkt mehr zu haben.Und dabei stelle ich mir die Frage, obwir überhaupt noch die Sehnsucht nacheinem Ankommen, nach einem richtigenZuhause in uns tragen.Sie sind für Ihre elegante und präziseSprache bekannt. Wie erleben Sie dasSchreiben in einer Sprache, die Sie neuerlernen mussten?Gregor: Nach unserem Umzug habe ichDeutsch einerseits ganz natürlich imAlltag, andererseits aber auf eine sehrstrukturierte Weise gelernt. Mein Vaterhat sehr viel Wert darauf gelegt, dassich die Sprache gut beherrsche, und mitmir gezielt Grammatik und Vokabelngelernt. In dieser Zeit habe ich Sprachedas erste Mal als Instrument wahrgenommen,als ein logisches Gebilde ausWörtern und Regeln. Wenn man nur seineMuttersprache spricht, bleibt einemdiese Dimension der Sprache oft verborgen.Aus diesem Hintergrund herausschreibe ich.Diese Ausgabe des sortimenterbriefssteht ganz im Zeichen der LeipzigerBuchmesse. Werden Sie auch dort seinund aus Ihrem neuen Buch lesen?Gregor: Ja, ich wurde nach Leipzig eingeladen.Daneben wird es noch weitereTermine geben, die mich von Wien überInnsbruck bis nach Frankfurt führen.Herzlichen Dank für das Gespräch!Susanne Gregor: Wir werden fliegenca. 256 Seiten, Hardcover, mit SchutzumschlagISBN 978-3-627-00308-1, € 24,70Frankfurter Verlagsanstaltsortimenterbrief 4/2337


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