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sortimenterbrief Dezember 2021

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Dezember 2021.

uchrezension Sex & Drugs

uchrezension Sex & Drugs & Elendsmenschen Mottingers Meinung www.mottingers-meinung.at „Im Saal wurde ihr Name gebrüllt, sie hörte ,Gisberta, komm raus! Gisberta, wir lieben dich!‘ Als Gi mir das erzählte, zitterte sie. Alle riefen, begehrten sie. ,Das war schön, Junge.‘ Sie beugte ihre Schultern zu einer Pose, eine Erinnerung an Momente, niemals würde sie vergessen, wie das Publikum sie mit den Augen verschlang, wenn sie Marilyn war, mehr als die echte Marilyn. My heart belongs to daddy. ... Erschöpft zog sie am Ende ihr Kleid aus, ließ es hinabfallen bis zu den Füßen, wie einen umgekehrten Heiligenschein. Und dann sahen sie ihr Haar über die nackten Schultern fallen, ihre wohlgeformten Brüste, ihre schmale Taille, die breite Hüfte. Und dann die enthaarte Scham und den Penis zwischen ihren Beinen. Yes, my heart belongs to daddy. ... Erst als sie mir ein altes Foto zeigte, sah ich, dass meine Gi heute nur ein erbärmlicher Abklatsch war, von der damals auf der Bühne.“ In seinem jüngsten Roman Aber wir lieben dich greift der portugiesische Autor Afonso Reis Cabral einen echten Kriminalfall auf. 2006 wurde in der Küstenstadt Porto die Transfrau Gisberta Salce Júnior von Jugendlichen aus einem Erziehungsheim mit sadistischer Brutalität erschlagen. Erst gab es landesweit große Aufregung, dann passierte – nichts. Der Minister sprach von einem Einzelfall, die Justiz verhängte Jugendstrafen, immerhin: die „Jugendhilfeanstalt“ Oficina de São José wurde geschlossen, als der Prozess die dortigen Gewaltorgien und den sexuellen Missbrauch offenbarte. Afonso Reis Cabral beleuchtet die Hintergründe des Verbrechens mit den Mitteln der schriftstellerischen Fantasie. In einer fiktionalen Vorbemerkung trifft er den nunmehr 29-jährigen Rafael Tiago, einen der Täter, der ihn in einem Brief um ein Buch über die Geschehnisse gebeten hat. Der Autor, so weit, so wahr, studiert Prozessakten und Presseberichte, interviewt Gisbertas Trans-Freundinnen, macht schließlich den 12-jährigen Rafa zum Ich-Erzähler – und entdeckt auf seiner Spurensuche „den Zusammenstoß zweier prekärer Welten, den Konflikt aller Beteiligten, die Folgen der Armut, dieses Wort, das man nicht mehr benutzen will, aber weiterhin verwendet, die Balance zwischen Verzweiflung und Hoffnung. Nichts Besonderes also ...“ Den Postkartenansichten des pittoresken Altstadtviertels Ribeira zum Trotz beschreibt Afonso Reis Cabral die „Dreckslöcher“ abseits der Touristenidylle, Stadterweiterungsgebiete, für die der Kommune das Geld ausging, Betonskelette aus rohem Zement neben Bauruinen, Schutt, Abfall, „verbotene Orte“, wie Nélson sie nennt. Derart ist die Gang schnell vorgestellt: der sein Kindheitstrauma mittels Rebellion gegen alles und jeden bekämpfende Rafa, der zerstörungswütige, sich abgebrüht gebende Nélson, der Schläger Fábio und Samuel, die sensible Künstlerseele, der die zerrüttete Welt der Jungs auf Papier festhält, Samuel, das Prostituiertenkind, denn Mütter haben die Fürsorgezöglinge allesamt, bettelarme, überforderte, drogensüchtige. „Mutterschaft war für sie ein steter Quell ungenießbaren Dreckwassers.“ Eines ihrer Quartiere, das die zum Sozialfall geborenen Jugendlichen täglich durchforsten, ist der Rohbau eines von den Investoren aufgegebenen Einkaufszentrums, „Pão de Acúcar“, also „Zuckerhut“, das, so Rafa, „zum Wohnheim für Menschen wurde, die in der Baustelle ihr eigenes Schicksal wiedererkannten“. Obdachlose, Junkies, Nutten – und mittendrin haust in einem elenden Verschlag ein bis auf die Knochen abgemagertes, androgynes Wesen, HIV-krank, geschwächt, schmutzig und mittellos, das jedoch mit brasilianischem Akzent, denn Gi kommt aus Übersee, die wunderbar traurigsten Geschichten erzählen kann. Rafa ist abgestoßen und angezogen zugleich. Bringt Essen, Decken, was immer er selbst entbehren kann, repariert mit Gi ein weggeworfenes, reichlich ramponiertes Fahrrad, schrubbt sich danach im Wohnheim unterm heißen Wasser fast blutig vor Ekel – und ist doch morgen wieder da, um Gis Glamour-Storys von den Cabarets in São Paulo zu hören. Die Rückblicke auf ihre Glanzzeit helfen ihm, einen tristen Tag nach dem anderen runterzubiegen, vielleicht, wer weiß, fühlt er bei ihr so etwas wie erstmals Mutterliebe? „Bevor ich sie kennengelernt hatte, dachte ich, der ganze andere Scheiß sei das, was mich ausmachte und mit dem sich erklären ließe, was ich sei, aber dann trat Gi dort hinein, wo ich vorher gar nicht gedacht hatte, dass dort eine Lücke war, und machte mich zu einem anderen.“ Die Kalvarienberg-Stationen, zu denen die Kapitel aus Gisbertas Leben werden, kreuzen sich mit Rafas Bericht, zwei Beichten sind das, so nah entlang der Realität geschildert, die Frage, was der Mensch ist und was er zum Menschsein braucht, dass es einem so tief unter die Haut geht, wie die Nadeln, die Gi sich bald setzt. Von der Bühne geht’s ins Bordell, wo sie, als selbst da ihre Tage als zweigeschlechtliche Schönheit gezählt sind, mit der Kraft des Mannes den Rausschmeißer für lästige Freier und mit der Zuneigung einer Frau die „Tante“ für die Kinder der Kolleginnen macht ... Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift Mottingers-Meinung.at Afonso Reis Cabral Aber wir lieben dich 304 Seiten, Hardcover ISBN 978-3-446-26920-0, € 24,70 | Hanser 42 sortimenterbrief 12/21

www.barbara-brunner.at Der aktuelle Lesetipp von Dr. Barbara Brunner Liebe Leute, wie viel Unfassbares findet man, wenn man sich auf Spurensuche in der Familie macht! Über zwei grandiose Familiensagas aus verschiedenen Ländern und Zeiten will ich berichten, Geschichten, in denen die Menschen zum Spielball der Geschichte wurden, wo sie aber auch durch Borniertheit, Standesdünkel und Engstirnigkeit das eigene Schicksal mitbestimmt haben. Constanze Neumann arbeitet in Wellenflug die Geschichte ihrer großen Familie anhand von zwei Frauengestalten auf, die einander nie begegnet sind und die einander auch unversöhnlich gegenüberstanden: Anna (1864–1905), die Tochter eines vermögenden jüdischen Tuchhändlers aus Leipzig, die durch die Ehe mit Julius Reichenheim in die erste Gesellschaft Berlins aufsteigt. Sie bekommt sieben Kinder, die allesamt zur Freude der Eltern wohlgeraten sind, bis auf den ältesten Sohn Heinrich, den charmanten Tunichtgut der Familie. Als er wieder einmal seine Spielschulden nicht bezahlen kann und dafür die Unterschrift des Vaters fälscht, wird er bis auf den Ertrag aus seinem Pflichtteil enterbt. Marie Stahmann (1905–1957) stammt aus ärmlichen Verhältnissen in Magdeburg und sucht in Berlin die Chance auf ein besseres Leben. Als Garderobière in einem Hotel verdient sie sich den Lebensunterhalt und das Geld für eine Schule für Stenotypistinnen. Durch Zufall lernt sie Heinrich kennen, sie verlieben sich ineinander – was in den Augen der Familie Reichenheim ein Skandal ist. Heinrich wird daher zu einer befreundeten Firma nach New York geschickt, aber anstatt Marie zu vergessen, lässt er sie nach einigen Wochen nachkommen und heiratet sie. Leicht hat es Marie nie mit dem unverlässlichen Heinrich, und doch zählen die Jahre in Amerika zu ihren glücklichsten. Bis Heinrich bei Kriegsausbruch nach Deutschland geht, um dem Vaterland zu dienen. Da er nach Kriegsende nicht mehr in die USA zurückkehren kann, überredet er Marie, zu ihm nach Deutschland zu kommen. Dort trifft sie die Ablehnung durch die Familie besonders hart, und auch Heinrich muss erkennen, dass er nun endgültig der arme Versager ist. Und wie die Geschichte in den folgenden Jahren und Jahrzehnten weitergeht, kann man sich unschwer vorstellen. Es ist der Hochmut von Anna, die vergessen hat, dass auch ihr Großvater das Kind eines armen Bäckers war, und es sind die vielen Mitglieder der Familie, die zwar ebenfalls den höchsten Kreisen Berlins angehören, aber dennoch viele liebenswerte Züge haben, die diese Familiensaga so berührend machen. Und dann gibt es noch Heinz, Heinrichs ledigen Sohn, von dessen Existenz Marie zufällig erfährt, den kleinen Jungen aus dem Waisenhaus holt und fortan für ihn eine hingebungsvolle Mutter ist. Dass dieser Heinz, Constanze Neumanns Großvater, das kleine Mädchen 1977 ebenfalls aus einem Kinderheim in Gera abholen muss, weil die Eltern wegen Republikflucht im Gefängnis waren, gibt der Geschichte eine berührende Klammer. buchrezensionen Im vergangenen Jahr hat Alena Mornštajnová mit ihrem Roman Hana einen Bestseller veröffentlicht. Die Geschichte des neuen Buches Stille Jahre spannt den Bogen von den Dreißigerjahren in der Tschechei bis zur Gegenwart: Das Mädchen Bohdana Zaková kann nicht verstehen, warum der Vater nicht mit ihr spricht, ihre Stiefmutter Béla schlecht behandelt und alle Fragen nach der Familie unbeantwortet lässt. Erst spät versteht sie, warum Svatopluk, der Vater, ein gebrochener Mann ist. Einst war für ihn der Kommunismus seine Religion, an die er glühend glaubte, er legte an sich, aber auch an seine Mitmenschen strenge Maßstäbe für die Erfüllung der Ideologie an und brachte es mit Hilfe der Partei zum Posten des Direktors einer Maschinenfabrik. Zwar ist es ihm verwehrt, ein Instrument zu erlernen, aber seine Liebe zur Musik verbindet ihn mit seiner Frau Eva, einer Pianistin aus ehemals großbürgerlichem Haus. Das Glück ist vollkommen, als die Tochter Blanka geboren wird, die fortan ein privilegiertes Leben führt. Bis sie als junges Mädchen eines Nachts betrunken mit Vaters Auto einen Radfahrer niederfährt, und anstatt dass sie und ihre mitfahrenden Freunde dem Verletzten helfen, verstecken sie ihn im Wald, sodass der Mann dort stirbt. Mithilfe seiner Beziehungen und mit viel Geld gelingt es Svatopluk, die Tochter ins Ausland zu schaffen, um den Preis, dass jeglicher Kontakt abgebrochen werden muss. Svatopluk fällt bei der Partei in Ungnade, geht aus Prag weg in eine kleine Provinzstadt und arbeitet unerkannt in einer untergeordneten Position in einer Fabrik. Eva will nochmals ein Kind, Bohdana, das Geschenk des Himmels, aber sie stirbt, als die Kleine ein Jahr alt ist. Für Svatopluk bricht endgültig die Welt zusammen, er nimmt weder seine Tochter zur Kenntnis, noch nimmt er Anteil am Leben. Es ist die Kindergärtnerin Béla, die sich des Kindes annimmt, und vermutlich weil es praktisch ist, heiratet Svatopluk sie. Béla ist eine liebevolle Mutter, aber die Fragen nach der Herkunft, nach der Familie kann auch sie nicht beantworten. Bis sich Bohdana als junge Frau auf die Suche macht und alle Geheimnisse nach und nach lüften kann ... Alena Mornštajnová ist wieder ein Buch gelungen, das grenzenlose Liebe ebenso zum Thema hat wie Enttäuschungen, wenn Lebenswege krumm werden, und das dabei die Geschichte der Tschechei anhand einer Familiengeschichte plastisch werden lässt. Wellenflug und Stille Jahre – zwei Bücher, die man beim Lesen nicht mehr aus der Hand legt, die berühren und viel zu denken geben, die nachhalten, im besten Sinn. Herzlich Barbara Brunner sortimenterbrief 12/21 43


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