buchrezensionenIm Bassin psychopathischer Existenzenwww.mottingers-meinung.atMottingers MeinungWürden wir mehr voneinander wissen,hätten wir weniger Angst voreinander.Wenn wir weniger Angst vor unserer Angsthätten, wüssten wir vermutlich genauer,was uns wirklich ängstigt.Ein Filmteam hat sich in der Schule angesagt,was die 14-Jährigen einigermaßenin Aufregung versetzt. Regisseurin EdinaDamjanovic, selbst Bosnien-Flüchtling,will ihre Dokumentation „Klasse derChancenlosen“ nennen und deren Nachsitzerndiverser Nationen Gesichter undStimmen geben. Der Direktor, wenig begeistert,mutmaßlich als Leiter einer Problemschuledargestellt zu werden, hat dieAufsicht über das Projekt der darob seufzendenKlassenlehrerin Franziska Steinbrennerübertragen.Nicht nur hat die in den Pausen an ihremFlachmann nuckelnde Frau die ewigenAuseinandersetzungen zwischen Serbenund Kosovaren, Tschetschenen und Türken,Irakern und Afghanen sowas von satt– „Die gegenseitigen Vorurteile scheinenderart tief im kollektiven Gedächtnis verankertzu sein, dass sie als Streitschlichterinauf verlorenem Posten steht“ –, sieficht auch ihren eigenen Kampf aus: denSorgerechtsstreit mit ihrem Ex-EhemannJürgen um die fünfjährige Tochter Sophia,denn dem schwer depressiven Psychowrack,denkt sie, sei kein Kind mehr anzuvertrauen.Nach seinem verrätselten,sich nie ganz enttarnenden Roman Monsterlegt Autor Kurt Palm mit Der Hai imSystem eins nach. Nur dass der Horrordiesmal so direkt ausgespielt wird wieeine Ansage zum Drei-Stich-Schnapser.Drei Hauptfiguren sind es auch, die sichhier durchs wilde Palmistan schlagen.Neben Franziska Steinbrenner der PolizistPhilip Hoffmann, der seine hochschwangereFrau Margot mit der manipulativenSexsadistin Lena betrügt und nunin deren Venusfalle gefangen Erpressungoder Enthüllung befürchtet, wo er dochden fürsorglichen Göttergatten bisher sogekonnt gegeben hat.Und als Ich-Erzähler der Superpsychopathunter all den Durchschnittsneurotikern,ein Mann mit Sturmgewehr undFenster mit Blick auf den Schulhof, eindurch alle Maschen des sozialen Netzesgefallener Wutbürger, ein Realitätsverweigererund Verschwörungstheoretiker,der eine Racheliste führt, von der in Holzpantoffelnherumlaufenden Nachbarinüber ihm bis zu den lärmenden Kids imSchulhof. Einmal war er drüben, um sichzu beschweren, da haben sie ihm „Fettsack“und „fette Sau“ nachgerufen. Jetztwähnt er seine Stunde gekommen.„Ist doch egal, ob ich mit vierzig odersechzig abkratze. Wen kümmert’s? Aberwenigstens bekomme ich noch ein paarschöne Schlagzeilen. Über das Motiv könnensie sich ihre Köpfe zerbrechen, bis sieschwarz werden. Es gibt nämlich keines,außer dass ich ein StG 77 besitze undfreie Sicht auf den Pausenhof einer Schulehabe.“ Kurt Palm macht kein Geheimnisdaraus, dass der Amokschütze abdrückenwird. Das Leben, scheint er zu sagen,hat weder Reset- noch Escape-Taste, sehrwohl aber eine für Delete.So taucht man ein in diesen Höllenpool,durchschwimmt verstörende Gedankenundnervenzehrende Gefühlswelten, undwas es mit dem Bild auf dem Buchcover„Kleines Mädchen vor Haifischbecken“auf sich hat, wird auch noch nachzulesensein. Palms schwarzhumorige Sprachewechselt zwischen „Oida! Echt porno!“-Slang der Migrantenkinder – „Warumsollen wir Deutsch reden. Mutter ist Putzfrauund redet mit anderen Putzfrauennur Serbisch. Vater arbeitet am Bau undredet mit anderen Arbeitern nur Serbisch.Deutsch ist voll unnötig. Brauch manur für die Schule“ – und einem WienerischemHochdeutsch.Trotz all der Derbheit und Brutalität imAusdruck gelingen ihm sensible Charakterstudien,Palm nähert sich seinenliterarischen Geschöpfen ehrlich und mitBedacht, selbst dem späteren Attentäter.Es ist logisch, dass sich die Schicksaleder Protagonisten kreuzen werden, sobaldsich die Ereignisse zuspitzen. Undwie Palm bis dahin das Thema fehlgeschlageneIntegrationvon Außenseiternaller Artvariiert, ist meisterlich. Er zeichnet dasBild einer dysfunktionalen Gesellschaft,die am eigenen Versagen laborierend unfähigist, Schutzbedürftige an- und aufzunehmen,ebenso wie sie es nicht schafft,das Gewaltbereite zu erkennen und einzugreifen.Sind die Menschen Spielball der Umständeund ihrer Umgebung, geprägt vonRessentiments und Panik voreinander, inDefensivhaltung vor der Erfahrung seelischerOhnmacht? Die Pädagogin, unfähig,der lernwilligen, allerdings den stigmatisierendenHijab tragenden SchülerinHaniya zu helfen – das muslimische Mädchen,das seine erste Periode vor dem Vaterverheimlichen will, damit er sie nichtals „unrein“ verflucht.Der Irre am Fenster, diese legitime Sohnvon Travis Bickle, der von der kettenrauchendenMutter und deren etlichenLiebhabern, die auch in sein Bett stiegen,Watschn kassierte, von denen ihm heutenoch die Ohren dröhnen, und der zwecksMachtrausch ins Drogengeschäft einstieg.Der Polizist Hoffmann, der mittlerweilekalkuliert, seine destruktive Affäremittels Femizid zu beenden. Lena mitdem Auto überfahren oder ihr eine Kugelin den Hinterkopf jagen? Der kaltherzigeVamp Lena, als Mädchen aus wohlhabender,aber desolater Familie umringtvon „schulterklopfenden Männern“, allenvoran ihr Vater.Auszug aus der Online-KulturzeitschriftMottingers-Meinung.at288 Seiten, Hardcover, mit LesebändchenISBN 978-3-7011-8239-8 , € 23,50 | Leykam30 sortimenterbrief 1/23
sonderthema belletristikGeiger erzählt vom überraschenden Gelingenin der Liebe, in der Familie, in der KunstVom Daheimsein woandersArno GeigerDas glückliche Geheimnisca. 240 Seiten, HardcoverISBN 978-3-446-27617-8€ 25,70 | HanserET: 10. JännerFrühmorgens bricht ein junger Mannmit dem Fahrrad in die Straßen derStadt auf. Was er dort tut, bleibt seinGeheimnis. Zerschunden und müdekehrt er zurück. Und oft ist er glücklich.Jahrzehntelang hat Arno Geiger einDoppelleben geführt. Jetzt erzählt erdavon, pointiert, auch voller Witz undmit großer Offenheit. Wie er Dinge tat,die andere unterlassen. Wie gewunden,schmerzhaft und überraschend Lebenswegesein können, auch der Wegzur großen Liebe. Wie er als Schriftstellergegen eine Mauer rannte, bevor derErfolg kam. Und von der wachsendenSorge um die Eltern. Ein Buch vollerLebens- und Straßenerfahrung, vollerMenschenkenntnis, Liebe und Trauer.Margit WeißWenn der Apfellastwagen kommtErinnerungen an eine Südtirolersiedlungca. 128 Seiten, viele alte Fotos,Hardcover, mit SchutzumschlagISBN 978-88-7283-868-6ca. € 19,80 | Edition RaetiaET: FebruarWährend der „Optionszeit“ verließen viele Südtiroler ihr Zuhause,um in Südtirolersiedlungen in Österreich und Deutschlandein neues zu finden. Margit Weiß, geboren und aufgewachsenin der Südtirolersiedlung Kufstein, betrachtet den Alltag und dieillustren Persönlichkeiten in der Siedlung mit den Augen des Kindes,das sie in den Sechziger- und Siebzigerjahren war: ob denBlumen pflückenden Herrn Maier, die Fani-Tant mit ihren Liebschaftenoder den geliebten Großvater Carlo. Was sie alle eint, istder Verlust der Heimat.Das neue Buch derIngeborg-Bachmann-PreisträgerinEin Café und seine Menschen –ein Mann, der seiner Sehnsucht folgtAna MarwanVerpuppt220 Seiten, HardcoverISBN 978-3-7013-1302-0ca. € 24,– | Otto MüllerET: 30. JännerRobert SeethalerDas Café ohne Namen288 Seiten, Hardcover,mit SchutzumschlagISBN 978-3-546-10032-8€ 24,70 | ClaassenET: 26. AprilRita findet sich nicht zurecht in der Welt. Ihr Leben lang hat siesich in Genügsamkeit und Akzeptanz geübt; früh kommt sie zuder Erkenntnis, dass sich Träume oder Dinge, die verlorengehen,durch andere ersetzen lassen. Durch Beobachtung stellt sie fest:Der Mensch ist ein Gefäß, in das über die Jahre alles hineinkommtvon außen – Meinungen, Verhaltensweisen, Gesten ... Das Lebenbetrachtet sie als eine reine Aneinanderreihung von Spielchen; jenach Situation wird diese oder jene Version der eigenen Person zurSchau gestellt und vor sich hergetragen. Was aus ihr werden soll,weiß sie nicht. Um das Chaos ihrer Welt zu bändigen, schreibt sieGeschichten, gestaltet Wahrheiten, erfindet sich Gefährten ...Wien im Jahr 1966. Robert Simon verdient sein Brot als Gelegenheitsarbeiterauf dem Karmelitermarkt. Er ist zufrieden mit seinemLeben, doch zwanzig Jahre nach Ende des Krieges hat sichdie Stadt aus ihren Trümmern erhoben. Überall wächst das Neue,und auch Simon lässt sich mitreißen. Er pachtet eine Gastwirtschaftund eröffnet sein eigenes Café. Das Angebot ist überschaubar,und genau genommen ist es gar kein richtiges Café, doch dieMenschen aus dem Viertel kommen, und sie bringen ihre Geschichtenmit – von der Sehnsucht, vom Verlust, vom unverhofftenGlück. Sie kommen auf der Suche nach Gesellschaft, manchehoffen sogar auf die Liebe, und während die Stadt um sie herumerwacht, verwandelt sich auch Simons eigenes Leben.sortimenterbrief 1/2331
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