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sortimenterbrief jänner 2023

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Jänner 2023.

© Simone HawlischIn

© Simone HawlischIn Ihrem Roman begleiten wir die allmählicheEmanzipation einer jungenFrau, die zwischen aufgezwungenemMedizinstudium, enttäuschenden Liebeserfahrungenund der Enge ihresFamilienverbands aufgerieben wird.Sie selbst haben Medizin studiert, allerdingsnicht in Odessa, sondern in Berlin.Es stellt sich unweigerlich die Frage:Wie viel von Ihnen steckt in Ihrer Protagonistinund Ihrer Geschichte?Teresa Petrovitz im Gespräch mitIrina Kilimnik»Wie ich Odessa kenne,wird die Stadt auch dieseBedrohung überstehen«Frau Kilimnik, in Ihrem DebütromanSommer in Odessa kehren Sie in dieStadt Ihrer Kindheit und Jugend zurück,die Sie mit 15 Jahren in RichtungDeutschland verlassen haben. Gleichvorweg, weil es das wohl drängendsteThema ist: Stehen Sie noch mit vielenMenschen in Odessa und in der Ukrainein Verbindung? Wie geht es Ihnenselbst angesichts der dramatischen Entwicklungenin der Ukraine und auch inOdessa?Kilimnik: Ich habe Kontakt in die Ukraineund tausche mich mit den Freundenund Freundinnen dort aus. In denvergangenen zehn Monaten hat sich dieStimmung mehrfach gedreht. Belastendist die Ungewissheit, wie es weitergehtund ob dieser Krieg jemals endet. Einigemeiner Bekannten haben die HeimatRichtung Westen verlassen. Ich selbst binin erster Linie sehr traurig. Ich fürchte,mein Odessa wird es so wie früher nichtmehr geben. Wenn ich an Odessa zurückdenke,steigen in mir sofort die Bilderaus meiner Kindheit hoch: morgensschnell zum Strand fahren und abendsausgehen. Jetzt schlagen dort Bombenein, und die Strände sind vermint.Hatten Sie Ihr Buch bereits fertiggestellt,als es zum russischen Überfall aufdie Ukraine kam?Kilimnik: Ich hatte den größeren Teildes Romans schon fertig.Kilimnik: Es ist tatsächlich so, dass ichMedizin studiert habe und dass dasStudium mich nicht glücklich gemachthat. Ich habe lange gebraucht, um einenSchlussstrich ziehen zu können, eigentlicherst, als ich mit dem Studium fastfertig war. Diese Erfahrung fließt in meinenComing-of-Age-Roman sicherlichmit ein. Authentisch ist auch, dass es einKraftakt ist, sich aus familiären Verstrickungenund Aufträgen zu lösen. Diemeisten Romanfiguren vereinen aberalle möglichen Erfahrungen in sich, eigene,die von Freunden und Freundinnen,oder sie sind schlicht Fantasie.Das Familienleben der Protagonistinist durch viel Tradition und patriarchaleStrukturen bestimmt. Der Großvaterthront als Oberhaupt über derGroßfamilie, die gemeinsam in einerWohnung lebt und nur aus Frauen besteht.Vor allem die Töchter drohen anden Launen des herrischen Vaters zuzerbrechen, aber nicht nur daran. WelchenHemmnissen begegnen die Frauenin Ihrem Buch?Kilimnik: Eine Großfamilie ist ein Segenund ein Fluch zugleich. Einerseits istda die familiäre Unterstützung, die besondersin schweren Zeiten wichtig ist.Andererseits beugt sich jeder Einzelneder bestehenden Hierarchie und mussim Sinne der Familie handeln. So ist esauch bei Olga, die aus Gehorsam ihremOpa und ihrer Familie gegenüber Medizinstudiert, obwohl es sie nicht erfüllt.Aber die Angst, Familienerwartungenzu enttäuschen, nagt an ihr, und sie gestattetes sich nicht, nach ihren eigenen32sortimenterbrief 1/23

tiefgründiger coming-of-age-romanWünschen zu handeln. Eine andere Facetteim Roman ist sicherlich die Liebe.Zum einen die elterliche Liebe und zumanderen die persönliche Liebe oder dieVerliebtheit. Der Vater hat die Liebe zuseinen drei Töchtern immer an Bedingungengeknüpft, was bei diesen deutlicheseelische Spuren hinterließ. Nichtzuletzt schürt er auch die Konkurrenzunter den Töchtern. In ihren persönlichenLiebesbeziehungen scheitern dieFrauen gänzlich. Bleibt nur die Hoffnung,dass die Enkelinnen es besser machen.Stehen bestimmte Konflikte, die Sie beschreiben,auch mit kulturellen Besonderheitenin Zusammenhang?Kilimnik: Etwas vielleicht spezifischOsteuropäisches ist der große Stellenwert,den die Familie einnimmt und dersich alle, auch die Töchter, verbundenfühlen. Sie können den Vater nicht einfachso verlassen, sie würden sich schuldigfühlen, und diese innere Verpflichtungbindet sie an ihn und hält sie in derganzen familiären Konstellation fest.Zur Sprache kommen in Ihrem Buchauch die politischen Widersprüche undReibungen, mit denen die Bevölkerungder Ukraine seit Jahrzehnten kämpft.Ihr Roman spielt im Sommer 2014, kurznach der völkerrechtswidrigen Annexionder Krim, einem der Vorboten derAggressionen der russischen Regierung.Sie zeichnen eine zerrissene und gespalteneGesellschaft. Wie sahen dieseRisse aus?Kilimnik: Politik hielt Einzug in die Familien,das fing damals an. Ich kenne einigePaare, die sich scheiden ließen, weilsie prorussisch und er proukrainischwar oder umgekehrt. Es gab auf einmalviel Streit darüber, welche Seite an wasSchuld hat und welcher Kultur die eigeneLoyalität gehört. Die Leidtragendendieser Familienkonflikte waren wie sooft die Kinder. Es war verstörend, mitzubekommen,wie sich einst liebende Menschenin Feinde verwandelten.Ihre Protagonistin steht den Konflikten,aber auch ihrem eigenen Leben immerwieder illusions- und hoffnungslos gegenüber.Ist das auch eine Erfahrung,die Ihre Generation gemacht hat?Kilimnik: Das beschreibt ihre Einstellungzu Beginn des Romans. Sie ist nochjung, hat eben erst mit dem Studium begonnen,aber sie merkt allmählich, dassResignation und ein Sich-Fügen keineLösung für sie ist. Ich denke, überall aufder Welt und in allen Generationen gibtes junge Menschen, die Schwierigkeitenhaben, sich vom Elternhaus zu lösen. DieUmstände können kulturell aber sehrunterschiedlich sein. Es ist sicherlichetwas anderes, ob man sich von eineralleinerziehenden Mutter oder von einerGroßfamilie abnabeln muss.Irina Kilimnik: Sommer in Odessa288 Seiten, HardcoverISBN 978-3-0369-5897-2€ 24,70 | Kein & AberET: 28. FebruarHeute steht Odessa vor allem als Hafenstadtin den Schlagzeilen, von deraus die umkämpften Getreidetransporteauslaufen. Die Stadt ist auchimmer wieder unter Beschuss und hatfür Russland, seit jeher, eine wichtigestrategische Bedeutung. Die GeschichteOdessas ist so reich wie konfliktbehaftet,über die Jahre waren über hundertNationalitäten in der Stadt beheimatet.Sie war auch Nährboden für ein herausragendesLiteraturerbe, die DichterinAnna Achmatowa oder auch IsaakBabel stammen aus Odessa. Was istund bedeutet die Stadt für Sie?Kilimnik: Odessa wird für mich immereine der schönsten Städte der Weltbleiben. Ähnlich wie St. Petersburgwaren die Bewohner Odessas zuerstimmer Odessiter:innen und dann erstalles andere. Das zeigt sich schon ander Sprache, einem Gemisch aus demRussischen, Ukrainischen, Jiddischenund Wörtern, die es anderswo nicht gibt,an der Melodie in den Stimmen und andem typischen Humor und Mutterwitz.Mein Opa sprach dieses Odessitischnoch, heute kämpft es einen vergeblichenÜberlebenskampf. Jetzt geht eserst einmal darum, dass mein Odessastehen bleibt und die Menschen verschontwerden. Wie ich Odessa kenne,wird die Stadt auch diese Bedrohungüberstehen.Wenn Ihre Erfahrungen mit der derProtagonistin übereinstimmen, dannist Ihre Muttersprache Russisch. Wiegeht es Ihnen beim Schreiben in deutscherSprache? Gibt es Facetten, die Sieim Deutschen vermissen? Fühlen Siesich im Deutschen gut aufgehoben?Kilimnik: Ich habe versucht, auf Russischzu schreiben, konnte es aber nicht.In deutscher Sprache zu schreiben,funktioniert für mich gut. Wenn ichschreibe, denke ich gleich auf Deutschund übersetze nicht. Ich vermisse keineFacetten, weil ich die beiden Sprachennie vergleiche.Gibt es bereits ein neues Schreib-Vorhaben?Kilimnik: Ja, es gibt bereits eine Idee...Herzlichen Dank für das Gespräch!sortimenterbrief 1/2333


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