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sortimenterbrief Juli/August 2020

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Juli 2020.

uchrezension

uchrezension www.mottingers-meinung.at Mottingers Meinung Bekannte Künstler über die besten unbekannten Stücke Es ist zugegeben eine Koketterie. Spielplan-Änderung! – über ein Buch mit diesem Titel kann man dieser Tage nicht hinwegsehen. Kulturjournalist Simon Strauß, Sohn des großen Botho, hat es herausgegeben, hat Künstlerinnen und Künstler eingeladen, über Stücke zu schreiben, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten sind, aber dringend auf die Bühne gehörten. Gemeinsam begründen sie in diesem Buch das Programm für ein neues Theater, das sich nicht an Besetzungszwang, Auslastung oder einem wohlfeilen Spielplanmotto orientiert, sondern ausschließlich an literarischen Qualitäten. Dörte Lyssewki, Daniel Kehlmann, Hans Magnus Enzensberger, Nino Haratischwili, Johanna Wokalek, Burghart Klaußner, Hanns Zischler und selbstverständlich Strauß’ Vater stehen auf Simon Strauß’ „Besetzungsliste“. Und wenn sich auch derzeit kein Vorhang hebt, so wird hinter den Kulissen die Zwangspause doch fürs Planen von Künftigem genutzt. Strauß samt Mitstreitern wollen in diesem Sinne ihren Band durchaus als Inspirationsquelle verstanden wissen. Abseits der ausgetretenen Pfade des längst Bewährten, der oftmals irrwegigen Dramatisierungen von Vorlagen laden sie ein, das weite Land der Theaterliteratur neu zu erobern. Mit 30 ausgewählten Stücken lassen sie den Leser die Probe aufs Exempel machen, in ihnen alles, was schon Großmeister Irimbert Ganser während des Theaterwissenschaftsstudiums die archetypischen Themen des Theaters nannte: Liebe – Macht – Tod. Beschworen wird ein Armes Theater à la Jerzy Grotowski, ein Peter-Brook’scher Leerer Raum, ein Schauspieler/eine Schauspielerin, Stimme und Körpersprache, um Allzuwie Unmenschliches über die Rampe zu bringen. In einzelnen Szenen vorgestellt wird Unbekanntes von Altbekannten – von Lope de Vegas Das berühmte Drama von Fuente Ovejuna aus dem Jahr 1619, Franz Grillparzers Esther von 1868 über Ferenc Molnárs Die rote Mühle von 1924, Jean Anouilhs Der arme Bitos oder Das Diner der Köpfe aus dem Jahr 1956 bis zu Frankie und Johnny des vor wenigen Tagen verstorbenen, in Österreich dank Andrea Eckert als Maria Callas in seiner Meisterklasse berühmten US- Dramatikers Terrence McNally, den Filmkritikerin Verena Lueken gegen die Star-gespickte Banalisierung durch Hollywood verteidigt. Und auch ein echter Picasso ist zu finden – Wie man Wünsche beim Schwanz packt aus dem Jahr 1944. Um anderes Angebotene braucht man sich hierzulande keine Sorgen zu machen. Karl Schönherrs Glaube und Heimat hatte erst vor einem Jahr Premiere an der Josefstadt, Der Dibbuk von Salomon An-Ski, der Klassiker der jiddischen Literatur, war in einer sehr launigen Fassung im Hamakom zu sehen. Das Automatenbüffet der gebürtigen Wienerin Anna Gmeyner, das sich weder wegen Horváth noch Marieluise Fleißer – deren Stück Der starke Stamm hier in Erinnerung gerufen wird – in die zweite Reihe stellen muss, kennen wenigstens die Connaisseurs. Dörte Lyssewski sagt über Jakob Michael Reinhold Lenz’ 1774er-Komödie Der neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi mit dem illustren Personal eines Hauptmanns von Biederling, eines Grafen Chamäleon, eines Tirolers namens Zopf und eines Calmuckenprinzen, der freilich tatsächlich ein ehemaliger Page ist, dies sei eines der fulminantesten Stücke dieses „radikalsten, wildesten Sozialanklägers und revolutionärsten Vertreters des Sturm und Drang“, der seinerzeit Goethe derart Konkurrenz machte, dass dieser den späteren Büchner-Protagonisten als „Rebell und Querulanten“ aus Weimar verbannen ließ. Daniel Kehlmann erinnert sich an seine Wiederbegegnung mit George Bernard Shaws Die heilige Johanna, das er für von der Zeit angegraut und verstaubt wähnte: „Dann aber sah ich das Stück im Mai 2018 in der Inszenierung von Daniel Sullivan im New Yorker Friedman Theatre, vor ausverkauftem Haus, auf dem Höhepunkt der #MeToo-Bewegung. Keine opulente Produktion: Die Bühnenbilder waren zu Andeutungen reduziert, die Kostüme der Schauspieler unauffällig, alles konzentrierte sich, wie im angelsächsischen Theater üblich, auf die Leistung der Schauspieler. Im Zentrum verlieh Condola Rashad Johanna eine fröhliche Energie, eine Kraft und eine blitzende Intellektualität, die plötzlich wieder das ganze anarchische Potential dieses Schriftstellers spüren ließ.“ Ein sinnliches Erleben, das auch dem Leser von Spielplan-Änderung! schon unterlaufen ist, das Buch eine Empfehlung zum Anheizen der Theaterleidenschaft, zur Erweiterung des literarischen Horizontes – und als papierener Trost, bis es auf den Bühnen wieder „Vorhang auf!“ heißt. Auszug aus der Online-Kulturzeitschrift Mottingers-Meinung.at 262 Seiten, Paperback ISBN 978-3-608-50457-6 € 20,60 | Tropen 26 sortimenterbrief 7–8/20

omanvorstellung Paris und die Vielfalt des Liebens – ein Roman, der seiner Zeit voraus war Advertorial Rachilde. Homme de Lettres stand auf der Visitenkarte von Marguerite Eymery, die 1860 geboren wurde, mit zwölf Jahren zu schreiben begann und mit 15 den Namen Rachilde annahm. Sie kleidete sich als Mann und verfasste Romane, in denen sie sich explizit mit Geschlechterkonventionen und Themen wie Homo- und Transsexualität auseinandersetzte. Im literarischen Leben des Fin de Siècle hatte sie eine zentrale Position, ihr Salon war berühmt. Rachilde starb 1953 in Paris. Der Titel des Romans ist erzählerisches Programm – hier werden die Geschlechterordnungen und -grenzen gründlich durcheinandergewirbelt: Raoule de Vénérande, ihres Zeichens wohlhabende, junge Pariser Adlige, verliebt sich in Jacques Silvert, einen jungen Mann aus einfachen Verhältnissen, der seinen Lebensunterhalt mit Kunstblumen verdient. Sie macht Jacques – nach allerlei Liebschaften beider zu anderen Personen diverser Geschlechter – zu ihrer Geliebten und schließlich zu ihrer Frau. Die französische Literatin mit dem – eher männlich gelesenen – Pseudonym Rachilde schrieb Monsieur Vénus im Paris der 1880er Jahre mit Anfang 20. Sie verstieß mit ihrem Roman so vehement gegen die gesellschaftlichen und sexuellen Konventionen ihrer Zeit, dass das Werk ihr eine Geld- und Haftstrafe einbrachte und nur in einer entschärften Fassung erscheinen konnte. Monsieur Vénus, roman matérialiste wird zunächst 1884 in Brüssel beim Verlag Brancart veröffentlicht. Rachilde, die sich der schockierenden Natur der meisten Szenen bewusst ist, hatte erwogen, ihren Roman außerhalb Frankreichs zu veröffentlichen, um jegliches Problem mit der Zensur zu vermeiden. Dennoch wird Monsieur Vénus in Belgien wegen Verstoßes gegen die Sitten verboten. Der Autorin drohen zwei Jahre Gefängnis und eine Geldbuße von zweitausend Franc. Der Skandal ist erheblich und die Feindseligkeit seitens der meisten Kritiker heftig. Von den einen erhält Rachilde den Beinamen „Mademoiselle Baudelaire“, andere nennen sie „Königin der Décadents“. „In ihrem Hirn hat sie eine Bettstatt, in der sie Fräulein Sappho und Herrn Ganymed Unzucht treiben lässt“, schreibt der Dichter Jean Lorrain. Als der Reclam Verlag von Rachilde und ihrem Anfang der 1880er Jahre in Paris entstandenen Roman erfuhr, begann das Staunen schon beim Titel: Monsieur Vénus? Die Kombination dieser zwei Wörter genügt, um jahrtausendealte Vorstellungen und Bilder ins Wanken zu bringen. Und das unter einem Pseudonym, das sich einer eindeutigen Geschlechterzuordnung entzieht. Der gespannten Lektüre folgte die Verblüffung darüber, wie weit Rachilde und Monsieur Vénus ihrer Zeit voraus waren. Hier schreibt eine Anfang 20-Jährige den Roman der Befreiung von allen sexuellen Schranken und Konventionen, den Roman der Überschreitung der Geschlechtergrenzen. Und zugleich ein literarisches Manifest zur Absetzung des Mannes von seinem Thron. Schnell war klar, dass der Roman, der bei seinem Erscheinen ein Skandal war, erstmals ins Deutsche übertragen werden sollte. Die deutsche Erstübersetzung von Alexandra Beilharz und Anne Maya Schneider erscheint im September im Reclam Verlag. Unter verkauf@reclam.de können Sie Ihr persönliches Leseexemplar bestellen – lassen Sie sich von Rachilde und ihrer Geschichte verführen. Verkaufshinweise: Zum ersten Mal auf Deutsch – in der vollständigen Originalversion und mit einem Nachwort der Literaturwissenschaftlerin und Expertin für weibliches Schreiben Martine Reid. Die Wiederentdeckung eines Skandalromans aus dem Frankreich des Fin de Siècle. Die literarische Erfindung des weiblichen Dandytums. Rachilde Monsieur Vénus 220 Seiten, HC mit SU 978-3-15-011287-8, € 18,50 Reclam. ET: 25. September www.reclam.de sortimenterbrief 7–8/20 27


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