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sortimenterbrief juli/august 2022

Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Juli/August 2022.

© Heribert Corn auf.

© Heribert Corn auf. Dennoch galt lange: Wenn es wirklich wesentlich wurde, war das Buch das Medium der Wahl. Das spiegelte sich etwa im universitären Bereich wider. Gerade in den Geisteswissenschaften war es Voraussetzung, im Laufe der Wissenschaftskarriere zumindest ein Buch zu veröffentlichen. Heute reichen drei Aufsätze in einem renommierten Journal. In den kulturellen Diskursfeldern hat das Buch also nicht mehr die Bedeutung, die es einst eingenommen hat. Als Konkurrenzmedien treten heute nicht mehr nur Zeitung und Film und die bereits erwähnten Journals auf. Das Internet mitsamt Portalen von YouTube bis Instagram üben stetigen Konkurrenzdruck aus − und dies gilt ganz unabhängig von der Frage, ob ein E-Book dem Wesen nach noch ein Buch ist. Teresa Petrovitz im Gespräch mit Konrad Paul Liessmann »Jedes Buch hat eine unvergleichliche Geschichte und Identität« Herr Liessmann, wir unterhalten uns heute über die Zukunft und das Wesen des Buches. Voraussetzung dafür ist, den Ist-Zustand zu beleuchten, den das Buch heute in unserer Gesellschaft gerade mit Blick auf die Digitalisierung einnimmt. Wie gestaltet sich dieser Zustand Ihrer Meinung nach aus philosophischer Perspektive? Liessmann: Die Stellung des Buches hat sich in den letzten Jahren und Jahrzehnten einerseits nicht relevant verändert, selbst wenn dies durch die Entstehung von vielen Konkurrenzmedien so scheinen mag. Das Buch war, egal ob in belletristischer oder in Form des Sachbuchs, auch zu früheren Zeiten nie das ausschließliche Kommunikationsmittel unserer Gesellschaft, einfach auch deshalb, weil der Großteil der Menschen nicht lesen und schreiben konnte. Im Zuge der Alphabetisierung zirkulierte das Buch als Verständigungsmedium nur innerhalb bestimmter sozialer Schichten. Die Anzahl der Menschen, die lesen, ist in den letzten Jahrzehnten kaum gestiegen, sie ist wie damals nicht besonders hoch. Für zentrale Bereiche war das Buch andererseits jedoch das Informationsmedium schlechthin, und in dieser Hinsicht gab es eine Veränderung. Wer sich über etwas informieren wollte, wer bestimmte ästhetische Erfahrungen durchleben wollte, griff zum Buch, weil es kaum Alternativen gab. Mit den Zeitungen und später dem Kino kamen die ersten Konkurrenzmedien Die Veränderungen auf medialer Ebene verleiten zu oft pessimistischen Prognosen zur Zukunft des Buches. Umberto Eco trat als Gegenstimme auf, er zählte das Buch zu den großen Erfindungen und Zivilisationsmotoren wie das Rad oder das Messer. Aufgrund seiner Vollkommenheit würde es in seiner ursprünglichen Form auf ewig weiterbestehen. Teilen Sie diese Perspektive? 14 Liessmann: Mit Prognosen für die Ewigkeit bin ich prinzipiell etwas vorsichtig (lacht). Ich teile aber Ecos Einschätzung insofern, als das Buch genauso wie das Rad eine außerordentliche Erfindung ist, die in der Natur kein Vorbild hat. In der Natur gibt es keine Räder, keine Bücher und auch keine Buchstaben. Nun kann man sich fragen, was die entscheidendere Innovation ist. Ist es die Schrift, die seit Jahrtausenden in mannigfacher Gestalt auf mannigfachen Medien auftritt? Begreift man die Schrift als entscheidende Innovation, kann man zweifellos sagen: Die Schrift wird uns noch lange begleiten. Bis zu einem gewissen Grad ist sie das adäquate Medium für Ideen, Gedanken und Fantasien, weil sie zu Vorstellungen anregt. Sagt man hingegen, die entscheidende Innovation war die Komprimiesortimenterbrief 7–8/22

ung der Schrift in die Form des Buches, die Idee, einen Schriftkosmos zu errichten, dann lenkt sich der Blick auf das Buch. Und dieses erscheint uns als ein in sich geschlossenes Werk mit einer eigenen Struktur, man könnte auch sagen mit einer eigenen Seinsweise. Das Buch in seiner analogen Form, das ich in der Hand halte, das ich aufblättere und weglege, hat eine eigene Identität. Auch wenn ein Buch zigtausend Mal vorhanden ist, ist doch jedes Exemplar, das aus der Druckerpresse kommt, ein Exemplar mit einer eigenen und unvergleichlichen Geschichte und Identität. Und je nachdem, wie es behandelt wird, erhält es auch eine eigene Gestalt. Diese Gedanken leiten philosophisch zur sehr interessanten Frage über, ob ein Text, den ich in Gestalt eines Buches habe, identisch ist mit demselben Text, den ich nur als Datei auf meinem Computer habe und dem somit all die Momente sinnlicher Individualität abgehen. Eine Datei ist eine Datei ist eine Datei, ein Buch ist viel mehr. Sie treten dementsprechend seit Langem als Kritiker der Übermacht des Digitalen auf. Vor allem im Bereich Schulbuch warnen Sie vor den Gefahren einer zusehenden Digitalisierung über die Köpfe der Kinder hinweg. Welche Argumente stehen für das Schulbuch in materieller Form? Liessmann: Die Seinsweise und die Identität des Buches, wie ich sie soeben beschrieben habe, sind wesentliche Pfeiler dieser Debatte. Zuallererst lässt sich sagen: Was ein Kind mit bestimmten Formen der Weltbetrachtung und -erschließung verbindet, also was es sich unter Physik, Chemie oder dem Klima vorstellt, hängt wesentlich davon ab, wie ihm dieses Wissen entgegentritt. Geschieht dies in Form eines Buches, eröffnet dies eine Reihe von Assoziationsmöglichkeiten, selbst wenn das Buch in Details nicht auf dem letzten Stand der Dinge wäre. Begegnet dem Kind das Wissen jedoch in fluider Form und kommt es ihm durch diverse Internet-Informationskanäle entgegen, so ist dies eine sehr einseitige Form des Erwerbs von Wissen. Auch lernpsychologische Studien zeigen, dass die Arbeit mit Büchern eher imstande ist, das Verhältnis zu einem Thema, zu einer Frage, zu einem Wissensgebiet zu festigen. Zweitens entwickle ich als Lesender zum Buch, das ein materieller Teil meiner Lebenswelt ist, ein anderes Verhältnis, auch in emotionaler Hinsicht, als zu einer Datei, die nur eine unter vielen auf dem jeweiligen Assistenzgerät ist. Nimmt man an, dass ein modernes Schulkind nur ein Smartphone oder ein Tablet hat, dann befindet sich auf diesem Unzähliges, eben nicht nur Bücher in digitaler Form. Das macht es meiner Meinung nach so schwierig, eine Beziehung zum jeweiligen Wissensgegenstand herzustellen. Die Konkurrenz zu den anderen Möglichkeiten, die das Gerät bietet, ist zu groß. Warum sollte ein E-Book für ein Schulkind wichtiger sein als die Chatnachricht, die soeben reinkommt? Wenn das Kind beim Lernen aber nur ein Buch in der Hand hat, ist völlig klar: Das Buch ist hier und jetzt das Entscheidende. Wenn Bildung etwas mit Konzentrationsfähigkeit zu tun hat, ist das Buch in seinem Status unhinterfragbar. Ich halte es für höchst prekär zu glauben, man könne das Buch flächendeckend durch digitale Plattformen ersetzen, und damit bin ich nicht allein. Seit Jahren bleibt der Prozentsatz des Anteils von E-Books im Buchverkauf relativ konstant und relativ niedrig. Die Befürchtung, die man vor zehn Jahren hatte, dass das Buch vollkommen von digitalen Medien abgelöst werden würde, ist nicht eingetreten. Das zeigt, dass die Menschen intuitiv ahnen, dass ein Buch etwas anderes ist als die digitale Repräsentation eines Buches. Ich verstehe auch nicht, warum Didaktiker, die bei einem solchen Thema besonders sensibel sein müssten, postulieren, man könne das Buch einfach ersetzen – und dies nur, weil sie modern sein möchten. Wie ist Ihre persönliche Geschichte mit Blick auf Bücher verlaufen? die zukunft des buches Liessmann: Durch meine Eltern wurde mir ein sehr positiver Zugang zu Büchern mitgegeben, meine Mutter war ausgebildete Bibliothekarin. In unserer beengten Wohnung stand eine kleine Bücherwand, die bei entsprechend größeren Raumverhältnissen sicherlich viel umfassender ausgefallen wäre. Meine Beziehung zu Büchern war aber anfangs schwierig. Ich war ein eher schlechter Grundschüler, hatte Schwierigkeiten mit dem Lesen. Bücher wurden somit eine Art Feindobjekte für mich, etwas, das sich mir versperrte. Das veränderte sich erst, als ich auf Bücher stieß, die mich so interessierten, dass ich dadurch meine Lesefähigkeit verbesserte. Dazu zählten deutsche, griechische und römische Götter- und Heldensagen und die Bände von Karl May. Es standen auch einige Sachbücher im elterlichen Bücherregal, unter anderem eine populäre Einführungsreihe in verschiedene Sachgebiete namens Du und … . Ich entdeckte den Band Du und die Philosophie, und wie man sieht, hat das mein Leben entscheidend verändert. Ich bin in hohem Maße durch Bücher zu dem geworden, was ich bin. Ich hatte aus meiner Bewunderung für das Medium Buch heraus auch schon sehr früh den Wunsch, einmal ein Buch zu schreiben. Dass ich diesen Lebenswunsch tatsächlich realisiert habe, empfinde ich heute noch als Geschenk. Auch aus einer lebensgeschichtlichen Perspektive, weil ich weiß, dass meine Mutter ebenfalls diesen Wunsch hegte. In Kürze wird wieder ein Buch von Ihnen erscheinen. Liessmann: Dabei handelt es sich um den Sammelband Der Geist im Gebirge anlässlich des 25-jährigen Jubiläums des Philosphicum Lech, der am 26. September im Zsolnay Verlag erscheinen wird. Ein Buch, auf das ich mich sehr freue und das mit seinen Beiträgen ein Vierteljahrhundert europäischer Geistesgeschichte abbildet. Herzlichen Dank für das Gespräch! sortimenterbrief 7–8/22 15


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