© Haymon Verlag/Orla ConnollyTeresa Petrovitz im Gespräch mitEllen Dunne»Ich fragte mich: Was machen all dieAbgründe mit diesen Menschen?«Zu Anfang gratuliere ich Ihnen ganzherzlich zum Glauser-Preis in derHauptkategorie Bester Roman, denSie für Ihr letztes Buch Boom TownBlues erhalten haben. Die Jury ehrteSie für das „Feuerwerk“, das Sie darin„sprachlich zünden", für Momente vollvon Ironie, Sarkasmus, Intelligenz undLebensfreude.Dunne: Über den Preis freue ich mich− immer noch − sehr, ebenso über dieJurybegründung, die sich auch auf meinenStil bezogen hat und somit einegenreübergreifende Bewertung enthält.Die Preisverleihung in Darmstadt, zuder ich aus meiner Wahlheimat Irlandangereist bin, war aufregend. Die Galaveranstaltungläuft ähnlich wie dieOscars ab: Die Nominierten wissen biszum Zeitpunkt der Verleihung nicht, obsie nun gewonnen haben oder nicht, dieNamen der Gewinner:innen sind in Kuvertsversteckt. Es war ein sehr schönerAbend.Zugleich haben Sie Ihr neues Buchrund um die Ermittlerin Patsy Loganfast beendet. Unfollow Stella, der vierteBand Ihrer Reihe, wird im kommendenHerbst erscheinen. Wie geht es Ihrer vonden Leser:innen sehr geschätzten undunkonventionellen Ermittlerin im neuenBuch? Was bewegt sie?Dunne: Bewegung ist insofern eingutes Stichwort, als Patsy sich im Gegensatzdazu in einer Phase des Stillstandsund der Stagnation befindet.Den zeitlichen Hintergrund von UnfollowStella bildet der Sommer nach demersten Lockdown. Sie befindet sich beiihrer Cousine, Dublin und alles rundum sie ist sehr ruhig. Sie hat das Gefühl,wie einige von uns es damals wohlauch hatten, steckengeblieben zu sein.Und damit hat sie auch recht: Sie hatihr ursprüngliches Ziel aus den Augenverloren, die Geschichte rund um ihrenverschwundenen Vater aufzuklären.Auch deshalb, weil sie Angst hat, damitihre eigene Geschichte und die ihrerFamilie infrage zu stellen. Dazu kommt,dass sie mittlerweile in Scheidung lebt.Ihr Mann hat sie für eine Frau verlassen,die älter ist als sie. Da wollte ichbewusst mit einem Klischee brechen,aber natürlich schmerzt das Patsys Ego.Gleichzeitig versucht sie ihr Vorgesetzteraus dem Dezernat zu drängen unddurch einen männlichen Kollegen zuersetzen. All das sind Tiefschläge, diesie erst verdauen muss.Aus dieser Zeit des Rückzugs wird sieaber jäh herausgerissen.Dunne: Sam Feuerstein, ein österreichischerBekannter, der mit ihr im letztenFall ermittelt hat, bittet sie in einer„kleinen Sache“ inoffiziell um Hilfe.Und diese wird sich dann doch weitausgrößer als gedacht herausstellen.Die „kleine Sache“ ist der Vermisstenfalleiner jungen Frau namens Stella,die von ihrer Familie gesucht wird.Dies führt Patsy schließlich ins Milieuvon Content-Moderator:innen, dasheißt, zu Menschen, deren Tätigkeitdarin besteht, Internet-Content zuprüfen − ein prekärer und teilweiseauch traumatisierender Job. Wie hatsich dieses Thema für Sie ergeben?Dunne: Ich selbst habe einst für einenInernetgiganten im Kundenservice gearbeitetund bin noch mit Bekanntenvon damals in Kontakt, die heute nochin dieser Branche oder für Multinationalsarbeiten. So bin ich immer wieder38sortimenterbrief 6/23
neuer dublin-krimi der glauser-preisträgerinauf das Thema gestoßen. Ich stellte mirviele Fragen: Wer sind die Menschen,die in diesem Bereich arbeiten? Wiegeht es ihnen dabei? Warum haben siediesen Beruf gewählt? Und ich fragtemich: Was machen all die Abgründe mitdiesen Menschen? All das herauszufinden,hat sich dann als durchaus schwierigerwiesen. Content-Moderator:innenunterschreiben bei ihrem Arbeitsantrittüblicherweise ein non-disclosureagreement. Sie sind vertraglich alsonicht dazu berechtigt, über ihren Job zusprechen. Durch meine Kontakte in dieIT-Szene konnte ich dann doch einigesherausfinden.In Ihrem Buch kommt es im Umfeld derContent-Moderator:innen zu Machenschaften,hinter denen verschiedeneMotive stehen. Interessant ist vor allemder Aspekt der Selbstjustiz, den Sie behandeln:diejenigen, die Hass-Contentverbreiten, werden zu Gejagten. Als Social-Media-Nutzer:inhat man ja häufigdas Gefühl, dass gegen Hass im Netzzu wenig unternommen wird ...Dunne: Ich denke, dass vonseiten derUnternehmen mit mehr oder mindergroßer Anstrengung grundsätzlichversucht wird, so viel Contentwie möglich zu prüfen. Was die Lageaber so schwierig macht, ist das fastunglaubliche Wachstum bestimmterApps und Plattformen. Dieses Wachstumsteht über allem. Gleichzeitig wirddadurch eine effiziente Überprüfungdes massenhaften Contents so gut wieunmöglich, insbesondere bevor er insNetz gelangt. Zwar kommt mittlerweilezusätzlich AI zum Einsatz, aber nurein sehr kleiner Prozentsatz kann vonMaschinen aussortiert werden. Ein weitererwichtiger Aspekt ist der beruflicheStatus der Content-Prüfer:innen. DieMitarbeiter:innen haben es nicht leicht.Viele erleiden Traumatisierungen, weilsie immer wieder Dinge sehen, die sienicht verarbeiten können.Ihre Ermittlerin begegnet diesem Fallwieder mit ihren ganz eigenen Methodenund ihrem unverwechselbarenCharakter. Nach welchen Gesichtspunktenhaben Sie Ihre Protagonistindamals eigentlich entworfen? Wie solltesie sein, und wie sollte sie nicht sein?Dunne: Wichtig war mir bei der Konzeptionmeiner Figur, dass ich demhistorisch bedingten Defizit an facettenreichenund interessanten Frauenfigurenetwas entgegensetze. Zwar gabes damals schon einige Frauenfigurenin meinem Genre, aber die meistenwaren und sind auch noch heute miteher maskulin konnotierten Attributenversehen. Sie agieren teilweise wie Superheldinnen.Ich wollte hingegen eineFrau zu meiner Protagonistin machen,die stark, aber nicht unverwundbar ist,die Probleme hat. Ich habe sie damalsmit den Problemen ausgestattet, diemich zu dieser Zeit selbst beschäftigthaben: Der 40er naht, der gesellschaftlicheDruck, der damit einhergeht, lastetauf einem, man hat manches nochnicht erreicht, das man eigentlich schaffenwollte. Bei Patsy ist es beispielsweisedie ungewollte Kinderlosigkeit, diegerade am Anfang ein großes Themaist. Patsy sollte einfach ein Mensch sein,der sich auf seine eigene Art mit seinenProblemen auseinandersetzt − oderauch nicht: Denn sie ist ja auch eineFrau, die vieles von sich wegschiebt.Aber all das, was im Laufe der vier Bändepassiert ist, lässt sich irgendwannnicht mehr wegschieben. Und so gehtes uns auch, mit unseren Problemen,mit unserer Vergangenheit.Insofern wird Sie Patsy noch länger begleiten?Ellen Dunne: Boom Town BluesEin Fall für Patsy Logan320 Seiten, Softcover, ISBN 978-3-7099-7939-6€ 13,95 | HaymonEllen Dunne: Unfollow StellaEin neuer Fall für Patsy Loganca. 300 Seiten, Softcover, ISBN 978-3-7099-7965-5ca. € 13,95 | Haymon, ET: 3. OktoberDunne: Ja, ich denke schon. Jetzt istsie an einem Punkt, an dem sie nichtsmehr aufschieben kann. Sie findet sichgerade selbst und entdeckt, dass sievielleicht gar nicht die Person ist, für diesie sich gehalten hat. Eigentlich hatteich zu Patsy Logan drei Teile geplant,aber ihre Entwicklung ist noch nicht abgeschlossen.Und ich habe viele Ideen,wie es mit ihr weitergehen und was sienoch erwarten könnte.Herzlichen Dank für das Gespräch!sortimenterbrief 6/2339
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