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sortimenterbrief mai 2022

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe Mai 2022.

© Maria Tutschek v.l.:

© Maria Tutschek v.l.: Univ.-Prof. Dr. Dr. h. c. Christoph Zielinski, Dr. Herbert Lackner Advertorial Ossi Hejlek im Gespräch mit Herbert Lackner »Wissenschaftsskepsis ist in Österreich viel mehr verbreitet als in den anderen EU-Ländern« Wie kam es zum Buchprojekt? Sie sind Journalist, Univ.-Prof. Dr. Zielinski ist Arzt, einer der bekanntesten Onkologen Österreichs ... Wer hatte die Idee? Lackner: Wir saßen gemeinsam im Café Landtmann, unterhielten uns über die wöchentlichen Demonstrationen der Impfgegner:innen. Keiner von uns verstand die Dynamik dahinter – die einheitliche Verweigerung der wissenschaftlichen Erkenntnisse. Die Unterschiedlichkeit innerhalb der demonstrierenden Bevölkerung faszinierte uns: von besorgten Müttern und Christ:innen mit Kreuzen auf der Brust über Esoteriker:innen bis hin zu Rechtsradikalen – quer durch alle Sozial- und Bildungsschichten. Wir wollten die Wurzeln dieses Denkens und Verhaltens suchen und verstehen. Wie weit gehen Sie historisch zurück? Lackner: Wir steigen etwa ein, als man begann, die Medizin als Wissenschaft zu bezeichnen, also ins 15./16. Jahrhundert. Davor konnte die Medizin nicht wissenschaftlich betrieben werden. Alle monotheistischen Religionen – Islam, Christentum und Judentum – verboten Leichenöffnungen. Ohne die war Forschung jedoch nicht möglich. Ein zentraler Punkt für die Entwicklung der Medizin und auch für unser Buch war die Pockenimpfung. Man impfte bereits Mitte des 18. Jahrhunderts gegen Pocken. Es gab auch damals großen Widerstand gegen die Impfung. Apropos Widerstand – was hat Andreas Hofer mit den Impfgegner:innen zu tun? Lackner: Die Pockenimpfung war etwa um das Jahr 1800 schon sehr sicher. Man muss auch wissen, dass damals so viele Menschen an Pocken gestorben sind wie heute an Krebs – insbesondere viele Kinder. In Frankreich führte Napoleon eine Impfpflicht gegen Pocken ein. Diese Impfpflicht dehnte er auf alle von ihm eroberten Gebiete aus – so auch auf Bayern. Nach der Schlacht von Austerlitz war Tirol an Napoleon gefallen, das er an Bayern weitergab. Dadurch galt auch in Tirol die Impfpflicht. Die Tiroler waren der Meinung, dass sie mit der Impfung das Ketzertum eingeritzt bekämen – den Protestantismus ... Zu vergleichen mit heute, wenn davon gesprochen wird, dass wir mit der Impfung einen Chip eingepflanzt bekommen. Welche Rolle übernahm die Politik? Lackner: Die Politik drängte eigentlich auf das Impfen. Maria Theresia förderte 26 sortimenterbrief 5/22

impfgegner:innen gab es schon vor über 200 Jahren die Pockenimpfung enorm, wie auch Königshäuser anderer Länder. Sie hatten Angst um den Fortbestand der Dynastien. Von Maria Theresias 16 Kindern erkrankten sechs an den Pocken – drei starben daran. Wie sah es in Deutschland aus? Lackner: Dort wurde die erste Impfpflicht 1874 von Otto von Bismarck eingeführt, da es ebenso schwindelerregende Pockenzahlen gab. 1873 starben in Deutschland 175.000 Menschen an den Pocken. Sind Sie zu einem Ergebnis gekommen, woher die Skepsis gegenüber der Wissenschaft stammt – warum sich rund ein Viertel der Menschen gegen die wissenschaftlichen Evidenzen stemmt? Lackner: In vielen Ländern – insbesondere in Deutschland und Österreich – kristallisierten sich nach Einführung der Pocken-Impfpflicht zwei Gruppen an Impfgegner:innen heraus. Die einen waren die Völkischen – heute würde man sie als Rechtsradikale bezeichnen. Sie kolportierten, dass alles eine Erfindung der Juden sei und ausschließlich die jüdischen Ärzte daran verdienen. Die zweite, weitaus größere Gruppe war aus den Lebenskulturbewegungen entstanden: Homöopath:innen, Naturheiler:innen, Turner:innen, Nudist:innen ... Sie vertraten die Meinung, dass nur die Natur in den Körper dürfe, frische Luft und Bewegung auslange. Diese beiden Strömungen traten in der Folge immer wieder auf. In Zeiten des Nationalsozialismus war man zu Beginn ebenso Naturanhänger und sprach von der „verjudeten Schulmedizin“. Der Begriff der Schulmedizin wurde eigentlich erst von den Nazis in Zusammenhang mit Antisemitismus geprägt. Als es jedoch zu den Kriegsvorbereitungen kam, wurde die Naturheillinie verlassen, da klar wurde, dass man auf einem Schlachtfeld keine Homöopathen brauchen konnte ... Ich hörte Univ.-Prof. Dr. Zielinski in einem Radiogespräch sagen, dass der Hintergrund für alles darin zu finden ist, dass die Menschheit weder im Emotionalen noch im Intellektuellen besonders ausgestattet sei. Andererseits formulierte er, dass die Menschen mit Innovationen nicht besonders viel anfangen könnten oder wollten, weil sich dadurch ihr Umfeld oder die Welt als solche verändern würde ... Haben die Menschen Angst vor dem Fortschritt? Herbert Lackner, Christoph Zielinski Die Medizin und Ihre Feinde Wie Scharlatane und Verschwörungstheoretiker seit Jahrhunderten Wissenschaft bekämpfen 200 Seiten, Hardcover, 978-3-8000-7796-0 € 25,– | Carl Ueberreuter Verlag Lackner: Die EU machte Umfragen in den Mitgliedsstaaten. Dabei fand man heraus, dass die Wissenschaftsskepsis in Österreich viel mehr verbreitet ist als in den meisten anderen Ländern. Es wurden im vergangenen Jahr auch Studienergebnisse der Universität Wien publiziert, in denen man erkannte, dass in Österreich der Begriff des Hausverstands eine viel größere Rolle spielt als in anderen Ländern. Ein Drittel der Österreicher:innen sagt, dass Hausverstand wichtiger sei als wissenschaftliche Studien ... Wie kann in heutigen Zeiten, in denen alle mit ihren Smartphones Zugang zum Wissen der Welt haben, den Verschwörungstheorien so viel Raum gegeben und Glauben geschenkt werden? Lackner: Gerade die Smartphones und Internet-Netzwerke sind es, die massiv zur Verbreitung von Unsinn beitragen. Christoph Zielinski hat im Buch sehr gut dargestellt, wie genau, vorsichtig und detailliert der wissenschaftliche Prozess der medizinischen Wissensgewinnung ist. Er hat auch die gewaltigen medizinischen Fortschritte beschrieben – insbesondere im Sektor der Krebsforschung. Spiegelt man die Pferdemedikations-Empfehlung an der wissenschaftlichen Realität, wird der Irrwitz noch deutlicher. Wie teilten Sie sich beide die Arbeit auf? Lackner: Das funktionierte blendend. Zielinski brachte die Medizin-Komponente ein – und ich die historischen Recherchen. Sie beschäftigten sich auch mit den Mechanismen der Verschwörungstheorien? Lackner: Ja, denn denen, die Verschwörungstheorien verbreiten, ist nichts zu blöd ... Dass wir von Echsenmenschen kontrolliert werden, die in unterirdischen Gewölben leben und sich mit echten Menschen paaren, das glauben Studien zufolge 4 % der amerikanischen Bevölkerung. Mit 4 % hat man bei uns sechs Sitze im Nationalrat! Dass uns kleine Glassplitter mit den Impfungen infiltriert werden, damit uns diese die Zellen aufschneiden ... welch fantasievolle Verbreitung von Dummheit. Im Hintergrund vieler Theorien steht ein zentraler Punkt: The Great Reset – dass Eliten die Macht übernehmen wollen ... auch durch die Covid-Pandemie. Verschwörung hin oder her, so wie es aussieht, sind wir mit den Impfwilligen am Zenit angelangt. Ein Viertel der Bevölkerung lässt sich nicht impfen. Mit dieser Zahl wird man sich wahrscheinlich abfinden müssen. Herzlichen Dank für das Gespräch! sortimenterbrief 5/22 27


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