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sortimenterbrief März 2021

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe März 2021.

© privat Helge-Ulrike

© privat Helge-Ulrike Hyams geboren 1942 in Neuruppin, war von 1974 bis 2005 Professorin für Erziehungswissenschaften an der Universität Bremen. Sie leitete das Marburger Kindheitsmuseum und begründete eine Sammlung deutsch-jüdischer Kinderbücher (Hyams Collection, Bibliothek des Leo Baeck College in London). Langjährige Ausstellungsarbeit und mehrere Buchveröffentlichungen. Die Psychoanalytikerin und Mutter von vier Kindern lebt in Marburg/Lahn und Sainte Marie du Mont (Frankreich). Im Herbst 2019 kam sie mit einer NGO nach Moria. Einen Winter lang hat sie mit Geflüchteten aus aller Welt gelebt und gesprochen, hat zugehört und seelische Unterstützung geleistet, bis im März der Sitz ihrer Organisation verbrannte, ein halbes Jahr bevor auch Moria in Flammen aufging. Teresa Petrovitz im Gespräch mit Helge-Ulrike Hyams Kapitel „Volunteers“. Der Entschluss, nach Lesbos zu gehen, kam nicht plötzlich, sondern war lange in mir gewachsen. Aber es gab auch einen direkten Auslöser. Dies war die Begegnung mit dem griechischen Fotografen Yannis Behrakis, der als einer der Ersten die Szenen der ankommenden Flüchtlingsboote in Lesbos fotografiert hatte. Bilder, die 2015 um die Welt gin- Lieblingsbeschäftigung!), Reinigungsarbeiten, Englischunterricht, Kinder betreuen, Müll einsammeln und vieles mehr. Allerdings entdeckte ich schnell eine Nische: Ich begann, die Frauen und Mädchen mit Handarbeiten zu beschäftigen, und verbrachte auf diese Weise viele Stunden am Tag nahe bei den Menschen. Das Gute dabei war, dass wir ohne Sprache kommunizieren konnten – nachzulesen im Kapitel „Häkeln“. Konnten Sie im Laufe Ihrer Tätigkeit auch tiefgehendere Beziehungen zu einzelnen betreuten Menschen aufbauen? Helge-Ulrike Hyams zeichnet aus nächster Nähe das Porträt eines Ortes und seiner Menschen Advertorial Sie sind im Herbst 2019 mit einer Schweizer NGO nach Moria gereist und haben einen Winter lang als Freiwillige Unterstützung geleistet. Wann haben Sie den Entschluss gefasst, direkt vor Ort zu helfen? Haben Sie bereits zuvor Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe und im NGO-Bereich gemacht? Hyams: Mitte Oktober 2019 fuhr ich nach Lesbos, um bei der Schweizer NGO One Happy Family zu arbeiten. Ursprünglich hatte ich mich für sechs Wochen verpflichtet, aber nach einer Woche änderte ich meine Pläne und entschied, den Winter über zu bleiben. Zuvor hatte ich keine Erfahrungen in der Flüchtlingshilfe gemacht, hatte auch nie in einer NGO gearbeitet – alles war neu für mich. Dieser ganz neuen Erfahrung widme ich im Buch das gen. Diese mir so wichtige Begegnung beschreibe ich deshalb gleich im ersten Kapitel. Welche Aufgaben haben Sie als Freiwillige übernommen und wie hat sich Ihr „Alltag“ in Moria gestaltet? Hyams: Unsere NGO hat nicht in Moria selbst gearbeitet, sondern wir hatten ein eigenes Gelände und Gebäude, etwa 6 km vom Lager entfernt. Unsere Besucher wanderten also etwa eine Stunde zu uns, um ihre Zeit bei uns zu verbringen. Abgesehen vom Leitungsteam gab es bei uns keine Hierarchien. Deshalb habe ich, wie alle anderen auch, alles gemacht, was in einer so großen Organisation, die täglich etwa 1000 bis 1300 Menschen empfing, an Arbeiten anfiel: Essen vorbereiten und austeilen (meine Hyams: Es bestand für unsere Organisation die Regel, dass wir, um wirklich für alle Besucher verfügbar zu sein, keine persönlichen Bindungen zu Einzelnen eingehen sollten. Niemand durfte gegenüber anderen bevorzugt werden. Und obgleich ich diese Regel gut verstehe und sie den Außenstehenden oft erklärt habe (und sie auch im Buch begründe), habe ich doch zumindest in einem Fall diese Regel gebrochen – nachzulesen im Kapitel „Marwa“. Mit Marwa und ihrer kleinen Familie stehe ich bis heute in Verbindung. Der jetzt elfjährigen Marwa, die mit drei Jahren Afghanistan verließ und seitdem auf der Flucht ist, habe ich das Buch – auch stellvertretend für die vielen anderen – gewidmet. Es gab auch weitere tiefgehende Bindungen, die bis heute bestehen. 26 sortimenterbrief 3/21

Wann stand für Sie fest, dass Sie ein Buch über Ihre Zeit in Moria verfassen und das Geschehen damit im kollektiven Gedächtnis festhalten möchten? Haben Sie schon im Camp geschrieben? Hyams: Obwohl ich gern schreibe, hatte ich keinen Plan. Während des Winters waren wir tagsüber so beschäftigt und abends so übermüdet, dass an Schreiben nicht zu denken war. Es reichte gerade nur für Tagebuchaufzeichnungen. Aber nach der Zerstörung von One Happy Family (durch Brandstiftung am 7. März 2020) und mit Beginn des Corona-Lockdowns brachten mich griechische Freunde in den Norden. Im menschenleeren Ferienort Molivos verbrachte ich zwei Monate, und dort begann ich zu schreiben. Danach brach ich mir den Arm und durfte noch einmal drei Monate auf der Insel bleiben. So erlebte ich das Lager Moria auch in der Sommerhitze und unter nicht endenden Lockdown-Bedingungen. Ihr Buch ist in viele Kapitel strukturiert, die verschiedenen Themen gewidmet sind. Die Leser erhalten dadurch einen Einblick in die vielen Lebenswirklichkeiten, die das Geschehen in Moria und Umgebung konstituiert oder beeinflusst haben. Hyams: Tatsächlich gibt es eben nicht ein Moria. Die vielen Kapitel sind wie Mosaiksteine, die das große Ganze ausmachen, noch dazu sehr subjektiv. Ein anderer Beobachter würde andere Bausteine zusammentragen, denn davon gibt es unendlich viele. Moria steht für eine Extremsituation, und so ist zu verstehen, dass alle Beteiligten, die Flüchtlinge selbst, die Griechen von Lesbos, die angereisten Freiwilligen, alle auf ihre Weise „extrem“ reagierten. Auf der einen Seite gab es unentwegt Interaktionen zwischen diesen Gruppen, auf der anderen Seite auch Tendenzen, sich zu separieren und/oder zu befeinden. Die Situation auf Lesbos war so komplex, dass man sie immer nur ausschnittweise beschreiben kann. Welche Ihrer Beobachtungen – vielleicht auch aus psychoanalytischer Sicht – waren für Sie besonders überraschend? Helge-Ulrike Hyam Denk ich an Moria ca. 160 Seiten, Klappenbroschur 978-3-946334-94-1, € 16,50 | Berenberg auch als E-Book erhältlich, ET: 23. März Hyams: Überraschend war eigentlich jeder neue Tag – aber es waren nicht immer die großen Ereignisse, die mich beeindruckt haben (Demonstrationen, Polizeigewalt oder Ähnliches), sondern die kleinen, bisweilen versteckten und nicht selten auch positiven Begebenheiten ringsum das Lager – nachzulesen zum Beispiel im Kapitel „Lidl“ oder „Busfahrer“. Und überraschend waren für mich immer wieder die Geschichten, die mir Einheimische erzählten, das, was sie mir damit zwischen den Zeilen vermittelten – zum Beispiel im Kapitel „Kafenion“. Eines Ihrer Kapitel beschäftigt sich mit dem Konzept der Resilienz bzw. der Frage, wie es möglich ist, dass viele Geflüchtete trotz ihrer Schicksale und der widrigsten Umstände im Camp psychisch relativ stabil bleiben und weiter funktionieren. moria hat viele gesichter Hyams: Diese Frage durchzieht in verschiedenen Varianten das ganze Buch, und sie hat mich auf Lesbos andauernd bewegt. Im Kapitel „Resilienz“ versuche ich, eine Antwort zu geben. Die Hauptursache für diese Resilienz ist wahrscheinlich der verzweifelte Wille nach einem besseren Leben, aber die modernen Resilienzkonzepte geben meines Erachtens keine vollständigen Antworten auf diese Frage. Erstaunlich ist tatsächlich das Durchhaltevermögen auf dem langen Fluchtweg. Das Problem aber war: Selbst wenn die Migranten in ihrem Lageralltag als „psychisch relativ stabil“ erscheinen mochten, so war man dessen nie sicher, dieser Zustand konnte von einem Moment zum anderen kippen – und genau damit hatten wir es in Moria häufig zu tun. Wie haben Sie sich selbst in dieser Ausnahmezeit erlebt? Gab es für Sie Momente der Verzweiflung, der Resignation? Hyams: Ja, es gab auch für uns Volunteers – und auch für mich persönlich – Momente der Resignation und Verzweiflung. Das waren einerseits die Momente, in denen wir einsahen (entweder allein oder mit Freunden), wie wenig wir ausrichten konnten, dass wir immer viel zu wenig taten (nachzulesen im Kapitel „Volunteers“). Das waren aber andererseits auch gänzlich überraschende Momente, in denen man von Emotionen überrollt wurde. Diese Reaktionsweise, also dass die tiefen Emotionen, einschließlich des dazugehörigen Weinens, oftmals zeitlich verschoben vom auslösenden Ereignis und meist ganz unverhofft eintrafen, beschreibe ich im ersten Kapitel („Yannis Behrakis“). Dies konnte ich bei anderen und auch bei mir selbst beobachten. Nach dem zehrenden Winter im Camp und dem Rückzug Ihrer NGO haben Sie auch den Sommer auf Lesbos verbracht. Welche Eindrücke haben Sie aus dieser Zeit mitgenommen? sortimenterbrief 3/21 27


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