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sortimenterbrief märz 2024

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Das österreichische Branchenmagazin für Buchmarkt, Buchverkauf und Buchwerbung. Ausgabe März 2024.

© Bahar Kaygusuzmir.

© Bahar Kaygusuzmir. Nach dem Abitur war es mit demSchreiben überraschenderweise vorbei,ich studierte Modedesign und späterMalerei. Als in den Semesterferienunsere Studierendenateliers geschlossenwaren, dachte ich mir, ich könntedoch einfach wieder etwas schreiben.Von diesem Zeitpunkt an habe ich eigentlichnicht mehr damit aufgehörtund die Malerei und das Modedesignhinter mir gelassen. Im Rückblick betrachtet,habe ich aber auch in diesenbeiden Disziplinen immer mit einemnarrativen Ansatz gearbeitet. Für meineAbschluss-Kollektion habe ich michetwa an Dostojewski orientiert. Das Erzählerischehat mich also wohl nie ganzlosgelassen.Ihr neues Buch handelt von einer jungenFrau, deren Traumata aus derKindheit wir als Leser:innen Stück fürStück näherkommen. Als Siebenjährigeverschwindet ihre um zwei Jahre jüngereSchwester Oda. Dieses Verschwindenbleibt für sie ein Rätsel, das von einerMauer des Schweigens umgeben ist.Als die Mutter stirbt, ändert sich dieseSituation.Gänsler: Mein Buch zeichnet eine Wochein Zoeys Leben nach, die Zeitspannezwischen dem Tod der Mutter und ihrerEinäscherung. Diese Zeit wird für dieProtagonistin zu einer Bewegung zwischenErinnern und Loslassen, zu einemAuftauchen aus der Vergangenheit unddem Eintauchen in neues Lebensmodell,das plötzlich frei von der Mutter ist.Teresa Petrovitz im Gespräch mitFranziska GänslerEin neues Meisterwerkatmosphärischer SpannungIhr Debütroman Ewig Sommer wurdemit viel Zuspruch aufgenommen, Siehaben dafür auch zwei Literaturpreiseerhalten. Nun wird bei Kein & AberIhr neuer Roman Wie Inseln im Lichtveröffentlicht. Seit wann schreiben Sieeigentlich, wie sieht Ihr literarischerWerdegang aus?Gänsler: Ich habe immer schon geschrieben.Als Jugendliche war dasSchreiben wahrscheinlich mein einzigesHobby. In den Sommerferien habeich Schreib-Workshops besucht. Ausmeiner Kindheit und Jugend gibt es jedenfallseine Menge kleiner Bücher vonÜber ihre Mutter sagt Zoey: „Das Lebender Mutter bestand aus Lücken, warein Text, in dem seitenweise geschwärztworden war, was sie nicht ertrug (…)das Erträgliche war immer die gleicheZeile: sie und ich in der Dachwohnung."Zu welchem Menschen hat Zoey dieseBeziehung gemacht?Gänsler: Das Entscheidende an Zoeyist, dass sie ihr ganz Leben lang ganz wenigPlatz für sich selbst hatte, vieles vonsich noch nicht kennengelernt hat, weilsie mit der ständigen Fürsorgerolle fürdie Mutter beschäftigt war. Zoey pflegtesie in ihrer kleinen gemeinsamen Dachwohnungbis zuletzt, über Jahre hinweg.Seit dem Verschwinden der kleinenSchwester konnte sie sich nie von ihrerMutter lösen. Es gibt zwar den Vater unddie Ex-Freundin Ari, der sie noch immersehr nahe ist, an erster Stelle stand aberimmer die Mutter. Daher kommt auchdie große Diskrepanz zwischen dem,wie sie selbst ihr Leben und wie es dasUmfeld sieht. Durch den Tod der Mutterfällt ihr diese Diskrepanz erstmals auf.In ihr ist auch ein großer Drang, endlichzu leben, sie möchte reisen, sie hat Lust26sortimenterbrief 03/24

vom auftauchen aus der vergangenheitauf Begegnung. All diese Impulse trägtsie immer schon in sich, musste sie aberunterdrücken und sich der kleinen Welt,die die Mutter für sie vorgesehen hat,fügen. Das macht auch die interessanteSpannung innerhalb dieser Figur aus,die sich zwischen dem Verklären dieserintensiven Beziehung, die ja auch positiveAspekte aufwies, und dem Loslösenergibt, durch den Blick von außen. Unddieser Blick offenbart eben auch, dassdiese Beziehung, so, wie sie gelebt wurde,ungesund war, dass die Mutter ihrerTochter zu viel zugemutet hat.Der Tod der Mutter und die Reise an denOrt ihrer Kindheit an der französischenKüste werden für Zoey zum Ausgangspunkt,um das Verschwinden der kleinenSchwester aufzuarbeiten. Diese Erinnerungsarbeitzeigt sich dann als einesehr prekäre Angelegenheit.Gänsler: Zoey ist in der traumatischenLage, dass ihre Schwester von einem Tagauf den anderen verschwand und ihr niejemand erklärt hat, was in der besagtenNacht geschah. Es gibt vonseiten der Erwachsenenkeinerlei Transparenz. Sieist ganz auf ihre kindliche Erinnerungangewiesen, und diese Erinnerung lässtsie im Stich, auch deshalb, weil ihr jeglicheWissensgrundlage fehlt. Insofernhandelt mein Text auch von der Verlässlichkeitder Erinnerung. Viele von unskennen wahrscheinlich die Situation,dass wir glauben, uns an etwas in unsererKindheit erinnern zu können, unsdann aber durch Korrekturen von außeneingestehen müssen, dass wir Begebenheitenfalsch interpretiert oder nichtrichtig eingeordnet haben. Um sich dasVerhalten der Mutter zu erklären, die nienach der eigenen Tochter gesucht hat,verdreht Zoey die Erinnerungen, zeitweisezweifelt sie sogar an der Existenzihrer kleinen Schwester.Die beim Lesen sehr fesselnde langsameEntschlüsselung der Geschehnisse jenerNacht kann Zoey schließlich nur mithilfevon anderen bewerkstelligen: Sielernt eine junge Frau kennen, in die siesich verliebt, und die unkonventionelleMadame Future.Gänsler: Von ihrer Mutter wurde Zoeymit Schweigen gestraft, wenn sie diekleine Schwester erwähnte. Sie spürte,dass sie ihrer Mutter das Sprechen überdas Ereignis nicht zumuten konnte. DieMenschen, auf die sie dann im Laufe derGeschichte trifft, unterstützen sie dabei,Antworten zu finden. Sie sind offener, alssie es gewohnt ist. Sie sieht auch, wie sichMadame Future um ihre Enkelin sorgt,und erkennt darin familiäre Verantwortungsübernahmeauf eine Art, die ihrsehr neu ist.Zoey ist, wie Sie es einmal waren, Kunststudentin.Im Buch verweisen Sie durchdie Protagonistin immer wieder auf dieKünstlerin Tracey Emin und auf einesihrer Video-Kunstwerke, in dem sieEdvard Munchs berühmtes Bild „DerSchrei“ rezipiert. Inwiefern spielt Eminsradikalbiografischer künstlerischerAnsatz für Ihr Schreiben und für Zoeyeine Rolle?Gänsler: Ich interessiere mich vor allemfür Performance- und Videokunst. Nachmeinem Kunst-Studium arbeitete icheine Zeit lang in der Wiener Albertinaals Kunstvermittlerin, unter anderemim Rahmen der Edvard-Munch-Ausstellung.Dort war dieses sehr eindringlicheVideo von Emin zu sehen. Ich konnteimmer wieder beobachten, wie diesesVideo auf die Zuseher:innen gewirkt hat.Tracey Emin verarbeitet in ihrer Kunstsehr traumatische Erlebnisse, trotzdemsteckt darin immer eine besondere Kraft,abseits von Pathos und Melancholie. Wieauch Madame Future stellt Tracey Eminim Buch einen Gegenentwurf zu ZoeysMutter dar, sie geht aktiv und kämpferischauf den Schmerz zu und aus ihmhervor. Auf Zoey wurde der Schmerzausgelagert, das Aufgeben der Mutterbedeutete zugleich das Belasten der eigenenTochter. Gleichzeitig ist Emins Kunststark vom Begriff der Wahrheit und vonder Suche danach beeinflusst. ZoeysMutter wählte hier genau die Gegenbewegung,in Form eines „Ich decke allesab.“ Die Faszination, die Emin auf meineProtagonistin ausübt, rührt wahrscheinlichvon diesem radikalen Wahrheitsanspruchund Optimismus her, der vonEmins Persönlichkeit ausgeht.Werden Ihre österreichischen Leser:innendie Möglichkeit haben, Sie beimLesen der atmosphärisch-spannendenZeilen Ihres Buches erleben zu können?Gänsler: Mit meinem Debütromanwar ich in sechs Ländern auf Lesetour.Ich werde hoffentlich auch diesmal inÖsterreich lesen und freue mich schonsehr darauf, mit meinem Buch „nachdraußen“ zu gehen. Für mich gibt es inder Auseinandersetzung mit meinenTexten immer zwei Phasen: die erste, inder ich mit den Worten und meiner Fantasieallein bin, und die zweite, in der ichhinausgehe, das Geschriebene wie einkleines Kind herzeige und darüber inAustausch treten möchte. Durch die Gesprächelerne ich immer wieder Neuesüber das, was ich geschrieben habe, entdeckeAspekte, die ich ansonsten nichtentdeckt hätte.Herzlichen Dank für das Gespräch!Franziska GänslerWie Inseln im Licht208 Seiten, Hardcover, ISBN 978-3-0369-5034-1€ 23,70 | Kein & Aber, ET: 15. Märzsortimenterbrief 03/2427


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